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Überholen auf Landstraßen, Autobahnen oder auch innerorts gehört zu den alltäglichen Fahrmanövern. Gleichzeitig zählt es zu den gefährlichsten, wenn es falsch eingeschätzt wird. Ein zentraler Begriff, der in diesem Zusammenhang immer wieder für Unsicherheit sorgt, ist die „unklare Verkehrslage“. Die
Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) verbietet in
§ 5 Abs. 3 Nr. 1 das Überholen bei einer solchen Lage. Was genau darunter zu verstehen ist, lässt der Gesetzgeber jedoch offen, eine Legaldefinition existiert nicht. Diese Lücke füllt die Rechtsprechung seit Jahrzehnten mit einer Vielzahl von Entscheidungen, die Leitlinien für die Praxis vorgeben. Grundsätzlich gilt, dass ein Überholvorgang nur dann eingeleitet und durchgeführt werden darf, wenn der Überholende die Gewissheit haben kann, ihn gefahrlos zu beenden.
Was versteht man unter einer „unklaren Verkehrslage“?
Da eine gesetzliche Definition fehlt, hat die Rechtsprechung den Begriff der unklaren Verkehrslage durch generelle Formulierungen konkretisiert. Eine unklare Verkehrslage liegt demnach immer dann vor, wenn nach allen Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht gerechnet werden darf (so z. B. OLG Saarbrücken, 16.11.2017 - Az:
4 U 100/16). Es kommt dabei nicht auf das subjektive Empfinden oder die persönliche Risikobereitschaft des überholenden Fahrers an, sondern auf eine objektive Betrachtung der Gesamtsituation. Kann der Überholwillige nicht verlässlich beurteilen, wie sich andere Verkehrsteilnehmer, insbesondere der Vorausfahrende, im nächsten Augenblick verhalten werden, ist die Lage als unklar einzustufen und ein Überholvorgang zu unterlassen. Die Ursache für die Unklarheit ist dabei unerheblich.
Der Bundesgerichtshof hat dies anhand von Beispielen verdeutlicht. So kann sich die Unklarheit aus einer sichtbehindernden Straßenführung ergeben, etwa durch eine unübersichtliche Kurve oder eine Kuppe. Ebenso kann ein vorausfahrender Lastkraftwagen, der die Sicht auf den weiteren Verkehrsverlauf versperrt, eine unklare Verkehrslage begründen. In solchen Fällen muss der Wartepflichtige, der den Verkehr nicht überblicken kann, von seinem Vorhaben Abstand nehmen (vgl. BGH, 26.09.1995 - Az:
VI ZR 151/94).
Wann ist die Verkehrslage nicht unklar?
Umgekehrt gibt es zahlreiche Situationen, in denen die Gerichte das Vorliegen einer unklaren Verkehrslage verneint haben. So schafft allein die theoretische Möglichkeit, dass ein Vorausfahrender verkehrswidrig links abbiegen könnte, noch keine unklare Lage. Das gilt auch dann, wenn sich der Überholvorgang im Bereich einer Kreuzung oder Einmündung abspielt und das vordere Fahrzeug dort langsamer fährt (vgl. OLG Hamm, 14.06.2018 - Az:
III-4 RBs 174/18). Auch das bloße Zufahren auf eine Kreuzung, an der das Linksabbiegen erlaubt ist, begründet für sich genommen noch keine unklare Verkehrslage (vgl. OLG München, 21.10.2020 - Az:
10 U 893/20).
Ebenso wird eine unklare Verkehrslage nicht durch das gelbe Blinklicht eines Fahrzeugs, etwa eines Reinigungs- oder Baufahrzeugs, begründet. Dieses Licht hat lediglich eine Warnfunktion vor Gefahren, die vom Fahrzeug selbst oder dessen Tätigkeit ausgehen, verleiht aber keine
Sonderrechte (vgl. OLG Düsseldorf, 04.04.2017 - Az:
I-1 U 125/16). Auch ein am Fahrbahnrand mit eingeschaltetem Warnblinklicht haltender Lkw signalisiert dem nachfolgenden Verkehr, dass er stehen bleiben wird. Ein Überholender darf daher von einem ungefährlichen Überholvorgang ausgehen, eine unklare Verkehrslage liegt nicht vor (vgl. OLG Jena, 18.05.2017 - Az:
1 U 622/16).
Typische Fallgruppen aus der Rechtsprechung
Die Gerichte hatten sich mit einer Fülle von Konstellationen zu befassen, in denen eine unklare Verkehrslage bejaht oder verneint wurde. Diese Entscheidungen helfen dabei, ein besseres Gespür für die rechtlichen Grenzen des Überholens zu entwickeln.
Ein häufiger Streitpunkt ist das Verhalten des vorausfahrenden Fahrzeugs. Allein das bloße Verlangsamen der Geschwindigkeit begründet für sich genommen noch keine unklare Verkehrslage (vgl. OLG Hamm, 14.06.2018 - Az:
III-4 RBs 174/18; AG Krefeld, 28.01.2010 - Az:
3 C 490/08). Auch wenn das vorausfahrende Fahrzeug bremst, weil es hinter einem parkenden Fahrzeug anhält, muss die Lage nicht zwingend unklar sein (vgl. AG Bad Segeberg, 31.01.2013 - Az:
17 C 196/12). Treten jedoch weitere Umstände hinzu, kann die Situation anders zu bewerten sein. Verringert beispielsweise eine Fahrzeugkolonne innerorts ihre Geschwindigkeit und leuchten die Bremslichter auf, muss sich der Überholwillige zunächst über die Ursache vergewissern, bevor er zum Überholen ansetzt (vgl. OLG Dresden, 18.02.2015 - Az:
7 U 1047/14). Die Beurteilung hängt stark von der konkreten Verkehrssituation und den örtlichen Gegebenheiten ab. Nur wenn diese Umstände geeignet sind, Zweifel an der beabsichtigten Fahrweise des Vorausfahrenden aufkommen zu lassen, entsteht eine unklare Verkehrslage (vgl. OLG Frankfurt, 26.01.2016 - Az:
7 U 189/13; AG Itzehoe, 05.09.2018 - Az:
94 C 292/17).
Besonders kritisch wird es, wenn Anzeichen für ein mögliches Abbiegen oder einen Spurwechsel hinzukommen. Setzt ein vorausfahrendes Fahrzeug den linken Blinker, ist unklar, ob es selbst überholen, einem Hindernis ausweichen oder abbiegen möchte – oder ob der Blinker versehentlich betätigt wurde. In einer solchen Situation verbietet sich ein Überholvorgang (vgl. OLG Rostock, 06.08.2003 - Az:
8 U 72/03). Auch wenn der Vorausfahrende seine Fahrt verlangsamt und sich zur Fahrbahnmitte hin orientiert, kann dies auf ein bevorstehendes Abbiegen hindeuten und begründet eine unklare Verkehrslage (vgl. OLG Koblenz, 17.01.2005 - Az:
12 U 193/04). Interessant ist, dass eine unklare Verkehrslage selbst dann vorliegen kann, wenn der Vorausfahrende gar nicht blinkt, aber sein Verhalten anderweitig auf ein Abbiegen hindeutet (vgl. OLG Frankfurt, 07.02.2005 - Az:
1 U 223/04).
Ein spezielles und unfallträchtiges Manöver ist das Ausholen nach links vor einem Rechtsabbiegevorgang in ein Grundstück. Ein solches Verhalten verstößt zwar gegen
§ 9 Abs. 1 Satz 2 StVO, schafft aber für den nachfolgenden Verkehr eine unklare Verkehrslage. Der Überholende muss damit rechnen, dass das Fahrzeug noch weiter nach links ausschert. Kommt es hierbei zu einer Kollision, kann die Haftung zu 60 % zulasten des Überholenden ausfallen (vgl. OLG Schleswig, 06.02.2024 - Az:
7 U 94/23).
Auch auf Autobahnen kann es zu unklaren Verkehrslagen kommen. Verlässt ein Fahrzeug beispielsweise die linke von drei Spuren nur teilweise und zieht dann abrupt wieder zurück, liegt für ein von hinten herannahendes, überholendes Fahrzeug eine unklare Verkehrslage vor, die zu einer überwiegenden Haftung des Überholenden führen kann (vgl. LG Leipzig, 10.01.2019 - Az:
4 O 2474/17). Ähnliches gilt, wenn ein Fahrzeug einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt abbricht und wieder auf die ursprüngliche Spur zurückkehrt. Dies kann einen atypischen Geschehensablauf darstellen, der den ansonsten gegen einen Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis entkräftet und zu einer hälftigen Schadensteilung führt (vgl. OLG Frankfurt, 29.04.2025 - Az:
9 U 5/24).
Das Überholen von Kolonnen
Das Überholen einer Fahrzeugkolonne ist zwar grundsätzlich nicht verboten (vgl. OLG Celle, 08.06.2022 - Az:
14 U 118/21), birgt aber erhebliche Risiken. Allein das Fahren in einer Kolonne stellt noch keinen Fall des Überholens bei unklarer Verkehrslage dar, es müssen besondere Umstände hinzukommen (vgl. OLG München, 21.10.2020 - Az:
10 U 893/20). Solche Umstände können zum Beispiel in der Örtlichkeit liegen. Wer etwa eine langsam fahrende Kolonne am Ende einer langgezogenen Rechtskurve überholt und wegen eines vorausfahrenden Transporters keine ausreichende Sicht hat, verstößt gegen das Überholverbot (vgl. OLG Köln, 28.01.2003 - Az:
3 U 85/02). Besonders gefährlich wird das Überholen mehrerer Fahrzeuge auf schmalen und kurvigen Straßen. Ein solches Manöver kann als grob fahrlässig eingestuft werden und bei einem Unfall zur alleinigen Haftung des Überholenden führen, da bei objektiver Betrachtung nicht mit einem gefahrlosen Gelingen gerechnet werden durfte (vgl. LG Ellwangen/Jagst, 20.03.2024 - Az:
1 S 70/23). Wer ordnungsgemäß zum Überholen einer Kolonne angesetzt hat, hat jedoch grundsätzlich Vorrang gegenüber Fahrzeugen, die aus dieser Kolonne ausscheren wollen (vgl. OLG Celle, 08.06.2022 - Az:
14 U 118/21).
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