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Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen: Wenn der Tarifvertrag auch für Nicht-Mitglieder gilt

Arbeitsrecht | Lesezeit: ca. 13 Minuten

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Tarifverträge werden zwischen tariffähigen Parteien, also Gewerkschaften auf der einen und Arbeitgeberverbänden oder einzelnen Arbeitgebern auf der anderen Seite, ausgehandelt. Grundsätzlich entfalten diese Verträge eine unmittelbare und zwingende Wirkung nur für die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse. Dies bedeutet in der Regel, dass der Arbeitnehmer Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft und der Arbeitgeber Mitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes sein muss. Es gibt jedoch einen Mechanismus, der den Geltungsbereich eines Tarifvertrages auf eine gesamte Branche ausdehnen kann: die Allgemeinverbindlicherklärung.

Welche Grundsätze gelten für die Tarifbindung?

Die normative Wirkung eines Tarifvertrages, also die unmittelbare Geltung seiner Regelungen für das Arbeitsverhältnis, ist in § 4 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) festgelegt. Demnach gelten die Rechtsnormen des Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen, unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen. Tarifgebunden sind gemäß § 3 TVG die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrags ist. Arbeitsverhältnisse mit Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die keiner der tarifschließenden Organisationen angehören, werden von den Regelungen eines Tarifvertrages prinzipiell nicht erfasst. Um dennoch einheitliche Wettbewerbs- und Arbeitsbedingungen in einem Wirtschaftszweig zu schaffen und Lohn- und Sozialdumping zu verhindern, sieht das Gesetz das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung vor.

Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung

Die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) ist ein staatlicher Hoheitsakt, durch den die Rechtsnormen eines Tarifvertrages auch für alle bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer innerhalb seines Geltungsbereichs verbindlich werden. Das Verfahren und die strengen Voraussetzungen hierfür sind in § 5 TVG geregelt. Zuständig für die Erklärung ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).

Eine Allgemeinverbindlicherklärung kann nur auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien erfolgen. Es muss also ein Konsens zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite darüber bestehen, dass der Tarifvertrag für die gesamte Branche gelten soll.

Die zentrale materielle Voraussetzung ist, dass die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Dieses Kriterium ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der Auslegung bedarf. Ein öffentliches Interesse wird in der Regel dann angenommen, wenn die AVE dazu dient, soziale Verwerfungen zu verhindern, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu sichern oder faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Es kann auch darin begründet sein, die Existenz von gemeinsamen Einrichtungen der Tarifvertragsparteien, wie beispielsweise Sozialkassen, zu sichern.

Des Weiteren muss eine wesentliche Bedingung erfüllt sein: Die tarifgebundenen Arbeitgeber müssen mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Diese sogenannte 50-%-Quote soll sicherstellen, dass der Tarifvertrag bereits eine erhebliche Repräsentativität in der Branche besitzt und nicht eine Minderheit der Mehrheit ihre Bedingungen aufzwingt. Die Feststellung dieser Quote in der Praxis erweist sich oftmals als komplex und fehleranfällig, was in der Vergangenheit wiederholt zur Unwirksamkeit von Allgemeinverbindlicherklärungen geführt hat.

Schließlich muss die Erklärung im Einvernehmen mit einem paritätisch besetzten Ausschuss erfolgen, dem jeweils drei Vertreter der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer angehören (Tarifausschuss).

Automatische Tarifbindung durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung

Wird ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt, erfasst er alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer innerhalb seines fachlichen, räumlichen und persönlichen Geltungsbereichs. Es kommt dann nicht mehr darauf an, ob eine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband besteht. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die in dem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag festgelegten Mindestarbeitsbedingungen zu gewähren. Dies betrifft insbesondere Entgeltregelungen, Arbeitszeiten, Urlaubsansprüche und Kündigungsfristen. Günstigere arbeitsvertragliche Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers bleiben davon unberührt (Günstigkeitsprinzip).

Die Allgemeinverbindlichkeit wird im sogenannten Tarifregister eingetragen, das beim BMAS geführt wird. Gemäß § 6 TVG kann dort jedermann Einsicht nehmen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales stellt auf seiner Internetseite zudem ein Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge zur Verfügung.

Gerichtliche Überprüfung von Allgemeinverbindlicherklärungen

Die Erfüllung der strengen formellen und materiellen Voraussetzungen des § 5 TVG ist Gegenstand zahlreicher gerichtlicher Auseinandersetzungen gewesen. Insbesondere die Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen über die Sozialkassen des Baugewerbes (Soka-Bau) standen im Fokus der Rechtsprechung. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) erklärte in mehreren Entscheidungen verschiedene AVEs für unwirksam, weil die gesetzlichen Anforderungen nicht erfüllt waren. So wurde beispielsweise bemängelt, dass nicht nachweisbar war, ob die erforderliche 50-%-Quote der beschäftigten Arbeitnehmer erreicht wurde, oder es lagen formelle Fehler im Verfahren vor.

Eine gegen diese Entscheidungen des BAG gerichtete Verfassungsbeschwerde einer Gewerkschaft und einer Sozialkasse nahm das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an (BVerfG, 10.01.2020 - Az: 1 BvR 4/17). Die Karlsruher Richter stellten klar, dass sich aus der in Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsfreiheit kein verfassungsrechtlicher Anspruch darauf ableiten lässt, dass ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird. Die Tarifautonomie schütze zwar das Recht der Tarifparteien, Tarifverträge mit dem Ziel einer späteren Allgemeinverbindlicherklärung abzuschließen, begründe aber keine Pflicht des Staates, diesem Wunsch auch zu entsprechen. Der Staat dürfe seine Normsetzungsbefugnis nicht unkontrolliert an Dritte abgeben und Bürger nicht schrankenlos der normsetzenden Gewalt von Akteuren ausliefern, denen gegenüber keine demokratische oder mitgliedschaftliche Legitimation besteht. Die vom BAG aufgestellten strengen Anforderungen an das Verfahren und die materielle Prüfung seien daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Die hohen Hürden für eine nachträgliche „Heilung“ einer fehlerhaften AVE hat das Bundesarbeitsgericht in einer weiteren Entscheidung bestätigt (vgl. BAG, 23.02.2022 - Az: 10 ABR 33/20). Erlässt das BMAS eine Allgemeinverbindlicherklärung, um eine frühere, unwirksame AVE desselben Tarifvertrags zu ersetzen, müssen im Zeitpunkt des Erlasses der neuen AVE wiederum alle materiellen und formellen Voraussetzungen vorliegen. Ein bloßer Rückgriff auf Teile des vorherigen, fehlerhaften Verfahrens ist grundsätzlich nicht zulässig, da das Gesetz kein spezielles Heilungsverfahren für unwirksame Allgemeinverbindlicherklärungen kennt.

Auswirkungen unwirksamer Allgemeinverbindlicherklärungen

Stellt ein Gericht die Unwirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung fest, hat dies weitreichende Konsequenzen, da die Rechtsgrundlage für Ansprüche aus dem Tarifvertrag gegenüber nicht tarifgebundenen Arbeitgebern rückwirkend entfällt. Eine wichtige Einschränkung ergibt sich jedoch aus dem Grundsatz der Rechtskraft. Hat ein Arbeitgeber bereits einen rechtskräftigen Titel gegen sich, der ihn zur Zahlung von Beiträgen – beispielsweise an eine Sozialkasse – verpflichtet, kann er sich im Nachhinein nicht darauf berufen, dass die zugrundeliegende AVE unwirksam war. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg entschied, dass die Zwangsvollstreckung aus einem solchen Titel nicht unzulässig ist (LAG Berlin-Brandenburg, 09.08.2018 - Az: 5 Sa 599/18). Der Einwand der Unwirksamkeit hätte bereits im ursprünglichen Gerichtsverfahren geltend gemacht werden müssen. Nach Eintritt der Rechtskraft ist dies gemäß § 767 Abs. 2 ZPO ausgeschlossen.

Konkurrenzverhältnisse zu anderen Tarifverträgen

Komplizierte Rechtsfragen können entstehen, wenn ein Arbeitgeber sowohl unter den Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages fällt als auch durch seine Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband an einen anderen Tarifvertrag (sog. Verbandstarifvertrag) gebunden ist. Für diesen Fall der Tarifkonkurrenz hat das Landesarbeitsgericht Hessen entschieden, dass der allgemeinverbindliche Tarifvertrag dann gilt, wenn der Arbeitnehmer seinerseits nicht durch Mitgliedschaft in der entsprechenden Gewerkschaft an den anderen Verbandstarifvertrag gebunden ist. Die Bindung des Arbeitnehmers und Arbeitgebers durch die AVE erzeugt in diesem Fall eine unmittelbare Geltung, die Vorrang hat, solange der Arbeitnehmer ein „Außenseiter“ in Bezug auf den konkurrierenden Verbandstarifvertrag ist (LAG Hessen, 01.08.2005 - Az: 16 Sa 9/05).

Arbeitskampf zur Durchsetzung einer Allgemeinverbindlicherklärung

Die Tarifautonomie umfasst auch das Recht zum Arbeitskampf. Ein Streik muss dabei auf ein tariflich regelbares Ziel gerichtet sein. Lange Zeit war umstritten, ob eine Gewerkschaft auch dafür streiken darf, den Arbeitgeberverband dazu zu bewegen, gemeinsam mit ihr einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung zu stellen. Das Landesarbeitsgericht Nürnberg hat hierzu klargestellt, dass das Streikziel „Erreichen der Allgemeinverbindlichkeit der Entgelttarifverträge in einer gemeinsamen Initiative“ ein mögliches und legitimes Verhandlungsziel darstellt (LAG Nürnberg, 20.07.2023 - Az: 3 SaGa 9/23). Ein Streik mit dieser Zielsetzung sei jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrig und könne daher nicht ohne Weiteres durch eine einstweilige Verfügung untersagt werden. Es wird dabei nicht der Staat bestreikt, sondern die Tarifvertragspartei auf der Gegenseite, um deren Mitwirkung am Antrag nach § 5 TVG zu erzwingen.

Beendigung der Allgemeinverbindlichkeit

Die Wirkung einer Allgemeinverbindlicherklärung endet automatisch mit dem Ablauf des Tarifvertrages selbst. Darüber hinaus kann das BMAS die Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 Abs. 5 TVG im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss aufheben, wenn die Aufhebung im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Eine solche Aufhebung kommt in der Praxis jedoch selten vor. In der Regel endet die Allgemeinverbindlichkeit durch Zeitablauf oder Kündigung des zugrundeliegenden Tarifvertrages.
Stand: 10.09.2025
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