Fragen zum Arbeitsvertrag? ➠ Wir prüfen den Vertrag für SieIm Arbeitsrecht taucht immer wieder der Begriff der „betrieblichen Übung“ auf, der den
Arbeitgeber zur Gewährung bestimmter Ansprüche gegenüber dem
Arbeitnehmer verpflichtet. Es handelt sich um Rechtsansprüche, die nicht im
Arbeitsvertrag, in einer
Betriebsvereinbarung oder einem
Tarifvertrag stehen, sondern sich über die Zeit aus dem Verhalten des Arbeitgebers entwickeln.
Unter einer betrieblichen Übung wird die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers verstanden, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Dieses wiederholte Verhalten wird rechtlich als ein Vertragsangebot des Arbeitgebers gewertet. Dieses Angebot wird von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend, beispielsweise durch die widerspruchslose Weiterarbeit, angenommen, was § 151 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zulässt. Im Ergebnis erwachsen aus dieser stillschweigenden Übereinkunft handfeste vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen.
Wie entsteht ein Anspruch aus betrieblicher Übung?
Entscheidend für das Entstehen eines Anspruchs aus betrieblicher Übung ist nicht, ob der Arbeitgeber tatsächlich den Willen hatte, sich für die Zukunft zu verpflichten. Maßgeblich ist stattdessen, wie der Arbeitnehmer als Erklärungsempfänger das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung aller Begleitumstände verstehen musste und durfte. Die Rechtsprechung prüft also, ob die Arbeitnehmer aus dem Verhalten des Arbeitgebers auf einen entsprechenden Rechtsbindungswillen schließen durften.
Obwohl es keine allgemein verbindliche Regel gibt, ab welcher Anzahl von Leistungen ein Arbeitnehmer eine dauerhafte Gewährung erwarten darf, hat sich in der Rechtsprechung eine Faustregel etabliert. Speziell für jährlich an die gesamte Belegschaft geleistete Gratifikationen, wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld, gilt der Grundsatz, dass eine dreimalige vorbehaltlose Gewährung dazu führt, dass ein entsprechender Anspruch des Arbeitnehmers entsteht.
Interessant ist dabei, dass eine betriebliche Übung nicht zwangsläufig an eine gleichbleibende Höhe der Leistung gebunden ist. Selbst wenn ein Arbeitgeber beispielsweise das
Weihnachtsgeld über Jahre hinweg in unterschiedlicher Höhe gezahlt hat, kann dies einen Anspruch „dem Grunde nach“ begründen. Die Arbeitnehmer müssen aus der variablen Höhe nicht schließen, dass sich der Arbeitgeber nicht binden wollte. Vielmehr kann dies bedeuten, dass ein Anspruch auf die Zahlung als solche entstanden ist, der Arbeitgeber sich aber vorbehalten hat, über die Höhe der Leistung jedes Jahr neu nach billigem Ermessen (§ 315 BGB) zu entscheiden.
Die Tücke liegt im Detail: Wann gerade keine Übung entsteht
Nicht jede Wiederholung führt automatisch zu einem Rechtsanspruch. Die Umstände des Einzelfalls sind entscheidend, und Gerichte schauen sehr genau hin, welchen Erklärungswert ein Verhalten des Arbeitgebers tatsächlich hatte.
So entsteht beispielsweise kein Anspruch, wenn Gehaltserhöhungen zwar mehrfach erfolgten, aber ersichtlich aus unterschiedlichen Anlässen gewährt wurden. Gewährte ein Arbeitgeber eine Erhöhung nach einer bestandenen Prüfung, eine weitere aufgrund einer allgemeinen Tarifanpassung und eine dritte aufgrund der Betriebszugehörigkeit, fehlt es an der Gleichförmigkeit, die für eine betriebliche Übung notwendig wäre (vgl. LAG Berlin, 06.12.2002 - Az:
6 Sa 1427/02). Auch ein Arbeitgeber, der nicht tarifgebunden ist, will sich durch die bloße Anlehnung an eine Tarifentwicklung in der Regel nicht für die Zukunft der Regelungsmacht der Tarifverbände unterwerfen (vgl. BAG, 16.01.2002 - Az:
5 AZR 715/00).
Eine betriebliche Übung wird ebenfalls verneint, wenn sie dem Zweck der ursprünglichen Vereinbarung widerspräche. Vereinbaren die Parteien eine leistungsabhängige Vergütung und sichern diese durch eine Garantiesumme nach unten ab, liegt der Zweck darin, einen Mindestverdienst zu sichern, aber höhere Verdienste zu ermöglichen. Allein der Umstand, dass die tatsächliche Vergütung die Garantiesumme über Jahre hinweg überschreitet, führt nicht zu einer Anhebung des Garantiebetrags durch betriebliche Übung. Dies würde die Absicht der Vertragsparteien „geradezu auf den Kopf stellen“ (vgl. LAG Düsseldorf, 30.09.2011 - Az:
10 Sa 119/11).
Eine schwächere Vertrauensbasis besteht auch, wenn Leistungen nicht der gesamten Belegschaft, sondern nur einzelnen Arbeitnehmern zu unterschiedlichen Zeitpunkten gewährt werden. Bei der Zahlung von Jubiläumsgeldern, die naturgemäß nur einzelne Mitarbeiter bei Erreichen einer bestimmten Dienstzeit betreffen, ist ein schutzwürdiges Vertrauen schwerer zu begründen. So sah das Landesarbeitsgericht München die Zahlung an acht Arbeitnehmer innerhalb von gut zwei Jahren als nicht ausreichend an, um eine betriebliche Übung für alle zu begründen (LAG München, 23.10.2003 - Az:
2 Sa 548/03).
AGB-Kontrolle: Der (meist) unwirksame Freiwilligkeitsvorbehalt
Arbeitgeber versuchen häufig, die Entstehung einer betrieblichen Übung durch Klauseln im Arbeitsvertrag zu verhindern. Diese sogenannten Freiwilligkeitsvorbehalte sollen klarstellen, dass Leistungen freiwillig erfolgen und keinen Rechtsanspruch für die Zukunft begründen.
Die jüngere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat die Hürden für solche Klauseln jedoch hoch gesetzt. Ansprüche, die durch betriebliche Übung begründet werden, gelten rechtlich als Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) im Sinne der §§ 305 ff. BGB. Dies gilt selbst dann, wenn kein schriftlicher Arbeitsvertrag existiert, denn auch mündliche oder eben durch Übung entstandene Bedingungen, die der Arbeitgeber für eine Vielzahl von Verträgen verwendet, sind AGB.
Als AGB unterliegen diese Freiwilligkeitsvorbehalte einer strengen Inhaltskontrolle. Das Bundesarbeitsgericht hat jüngst entschieden, dass viele gängige Klauseln unwirksam sind, weil sie den Arbeitnehmer unangemessen benachteiligen (§ 307 Abs. 1 BGB – vgl. BAG, 25.01.2023 - Az:
10 AZR 109/22).
Das entscheidende Problem ist oft die mangelnde Transparenz und die Reichweite der Klausel. Viele Vorbehalte sind so weit formuliert, dass sie jeden Rechtsanspruch auf Sonderzuwendungen ausschließen, egal auf welchem Entstehungsgrund er beruht. Sie kollidieren damit mit dem gesetzlichen Vorrang der Individualabrede (§ 305b BGB). Eine Individualabrede, also eine ausdrückliche oder konkludente Absprache zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, hat immer Vorrang vor AGB. Wenn der Freiwilligkeitsvorbehalt im Vertrag so verstanden werden kann, dass er auch eine spätere, individuelle Zusage des Chefs ausschließen würde, ist er unwirksam.
Eine solche unwirksame Klausel kann auch nicht „gerettet“ werden, indem man sie so auslegt, als würde sie nur die betriebliche Übung verhindern (Verbot der geltungserhaltenden Reduktion). Die Klausel ist vollständig unwirksam, mit der Folge, dass die dreimalige vorbehaltlose Zahlung eben doch zur betrieblichen Übung und damit zum Rechtsanspruch führt.
Schriftformklauseln und Tarifverträge
Auch eine sogenannte einfache Schriftformklausel im Arbeitsvertrag, wonach „Änderungen und Ergänzungen der Schriftform bedürfen“, verhindert die Entstehung einer betrieblichen Übung in der Regel nicht. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass die Vertragsparteien dieses Schriftformerfordernis jederzeit formlos und schlüssig wieder aufheben können. Genau dies geschieht, wenn der Arbeitgeber die Zahlungen vorbehaltlos erbringt und der Arbeitnehmer sie widerspruchslos entgegennimmt (vgl. BAG, 25.01.2023 - Az:
10 AZR 109/22).
Komplexer wird es, wenn die Schriftformklausel nicht aus dem Arbeitsvertrag selbst, sondern aus einem Tarifvertrag stammt, auf den der Arbeitsvertrag verweist. Ein konstitutives Schriftformerfordernis in einem Tarifvertrag kann das Entstehen einer betrieblichen Übung tatsächlich verhindern. Dahinter stand oft der Gedanke der Gleichbehandlung von tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern. Auch wenn die Rechtsprechung zur Auslegung solcher Verweisungsklauseln nach der Schuldrechtsreform 2002 differenzierter geworden ist (vgl. BAG, 22.10.2008 - Az:
4 AZR 793/07), bleibt es dabei, dass eine betriebliche Übung es schwer hat, sich gegen eine tarifvertraglich angeordnete Schriftform durchzusetzen (vgl. ArbG Essen, 24.10.2008 - Az:
5 Ca 2250/08).
Einmal Anspruch, immer Anspruch? Die (gescheiterte) gegenläufige Übung
Ist ein Anspruch durch betriebliche Übung einmal entstanden, hat er dieselbe rechtliche Qualität wie ein ausdrücklich im Vertrag vereinbarter Anspruch. Dies bedeutet vor allem: Der Arbeitgeber kann ihn nicht mehr einseitig beseitigen.
Wurde beispielsweise über Jahrzehnte vorbehaltlos Weihnachtsgeld gezahlt, ist eine vertragliche Verpflichtung entstanden. Der Arbeitgeber kann diese Verpflichtung nicht aufheben, indem er bei den letzten Zahlungen einseitig einen Hinweis auf „Freiwilligkeit“ hinzufügt. Ein solcher Zusatz ist rechtlich unbeachtlich, wenn der Anspruch längst entstanden ist (vgl. LAG Rheinland-Pfalz, 07.04.2011 - Az:
5 Sa 604/10).
Früher vertrat die Rechtsprechung teilweise die Auffassung, ein durch Übung entstandener Anspruch könne durch eine „gegenläufige betriebliche Übung“ wieder beseitigt werden. Die Idee war: Wenn der Arbeitgeber die Leistung (z.B. die Bezahlung von Pausen) konsequent nicht mehr erbringt und die Arbeitnehmer dies über einen längeren Zeitraum (z.B. ein bis drei Jahre) widerspruchslos hinnehmen, würde der Anspruch wieder erlöschen (so noch LAG Köln, 29.05.2006 - Az:
14 (12) Sa 56/06).
Dieser Rechtsprechung hat das Bundesarbeitsgericht jedoch eine Absage erteilt (BAG, 18.03.2009 - Az:
10 AZR 281/08; BAG, 25.11.2009 - Az: 10 AZR 779/08). Ansprüche aus betrieblicher Übung können nicht unter erleichterten Voraussetzungen wieder beseitigt werden. Insbesondere ist die Annahme, der Arbeitnehmer stimme durch widerspruchslose Hinnahme einer Kürzung zu, nicht mit § 308 Nr. 5 BGB (Klauselverbot für fingierte Erklärungen) vereinbar. Ein einmal entstandener Anspruch kann daher nur durch eine einvernehmliche Vertragsänderung oder durch eine formale
Änderungskündigung seitens des Arbeitgebers wieder beendet werden. Ein einseitiges Streichen oder ein „Ausschleichen“ durch eine gegenläufige Übung ist nach aktueller Rechtslage nicht mehr möglich.