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Geschwindigkeitsmessung: Zugang zu Lebensakte eines Geschwindigkeitsmessgeräts?

Verkehrsrecht | Lesezeit: ca. 37 Minuten

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Das Amtsgericht Achim hat den Betroffenen in der Hauptverhandlung vom 02.09.2021 wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit durch Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 41 km/h zu einer Geldbuße von 160 € verurteilt und ein Fahrerverbot von 1 Monat gegen ihn verhängt.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

Die zulässige Rechtsbeschwerde führt in der Sache – vorläufig – zum Erfolg.

Die von dem Betroffenen zulässig erhobene Verfahrensrüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung wegen der Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens im Hinblick auf die im Verfahren vor der Bußgeldbehörde und im bisherigen gerichtlichen Bußgeldverfahren verweigerte Gewährung des begehrten Zugangs zu verschiedenen Daten und Unterlagen erweist sich jedenfalls bzgl. der sog. Lebensakte bzw. etwaiger Reparatur-, Störungs-, Reinigungs- und Wartungsnachweise für das bei der Geschwindigkeitsmessung des Fahrzeugs des Betroffenen verwendete Messgerät als begründet. Gleiches gilt für die von der Verteidigung des Betroffenen erfolglos begehrte Einsicht in dessen Bedienungsanleitung.

Das Amtsgericht hätte dem in der Hauptverhandlung von der Verteidigung des Betroffenen gestellten Aussetzungsantrag angesichts dessen, dass ihrem Antrag auf Zugänglichmachung der vorgenannten Unterlagen bis dahin nicht ausreichend entsprochen worden war, stattgeben müssen. Dies folgt aus dem verfassungsrechtlichen und für das gerichtliche Bußgeldverfahren ausdrücklich in § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO geregelten Verbots der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung und des Anspruchs des Betroffenen auf ein faires Verfahren.

Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens und daran anknüpfender Verfahren gewährleistet der Grundsatz des fairen Verfahrens dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrzunehmen und Übergriffe der im vorstehenden Sinn rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können.

Daher hat der Beschuldigte eines Strafverfahrens neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden.

Dem Beschuldigten bietet sich auf diesem Weg auch außerhalb eines gerichtlich anhängigen Strafverfahrens eine weitgehende Möglichkeit, anlässlich der Tatermittlung entstandene Unterlagen der Ermittlungsbehörden, die nicht zum Bestandteil der Akten im Strafverfahren geworden sind, durch seine Verteidigung einsehen zu lassen.

Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind. Während so regelmäßig dem Informationsinteresse des Beschuldigten genügt ist, ist gleichwohl gewährleistet, dass der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens nicht durch eine sachlich nicht gebotene Ausweitung der Verfahrensakten unverhältnismäßig erschwert oder sogar nachhaltig gefährdet wird.

Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte gefundenen entlastenden Informationen können von der Verteidigung zur fundierten Begründung eines Antrags auf Beiziehung vor Gericht dargelegt werden. Der Beschuldigte kann so das Gericht, das von sich aus keine sachlich gebotene Veranlassung zur Beiziehung dieser Informationen sieht, auf dem Weg des Beweisantrages oder Beweisermittlungsantrages zur Heranziehung veranlassen.

Diese für das Strafverfahren geltenden Grundsätze können auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren übertragen werden. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistet dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren ebenso wie dem Beschuldigten im Strafverfahren das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren. Auch im Verfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz kann der Betroffene ein Interesse daran haben, den Vorwurf betreffende Informationen, die nicht zur Bußgeldakte genommen wurden, eigenständig auf Entlastungsmomente hin zu untersuchen. Denn es besteht im Hinblick auf Geschwindigkeitsmessungen kein Erfahrungssatz, dass die eingesetzten Messgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern.

Die technische Komplexität der bei Geschwindigkeitsmessungen zum Einsatz kommenden Messmethoden und die bei standardisierten Messverfahren verringerten Anforderungen an die Beweiserhebung im gerichtlichen Bußgeldverfahren begründen ein nachvollziehbares Bedürfnis der Betroffenen am Zugang zu weiteren die Messung betreffenden Informationen. Daher ist einem zu Informationszwecken gestellten Antrag der Verteidigung eines Betroffenen auf Gewährung von Einsicht in Unterlagen und Informationen, die nicht Gegenstand der Akten des gerichtlichen Bußgeldverfahrens sind, aber der Bußgeldbehörde vorliegen, grundsätzlich zu entsprechen.

Zur Verhinderung der Gefahr einer uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs gilt das Informations- und Einsichtsrecht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht unbegrenzt. Zum einen müssen die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen.

Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seiner Verteidigung abzustellen. Entscheidend ist, ob diese eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und schließlich die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind.

Es kommt deshalb insofern nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachten. Darüber hinaus steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht zu dem von ihm als relevant angesehenen Informationen zwar vom Beginn bis zum Abschluss des Bußgeldverfahrens zu. Er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt.

In Ansehung dieser Grundsätze ist der Betroffene im vorliegenden Verfahren in seinem Recht auf eine faire Verfahrensgestaltung verletzt worden.

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