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Absehen von der Anhörung wegen Corona?

Betreuungsrecht | Lesezeit: ca. 7 Minuten

Auf die Beschwerde vom 09.04.2020 wird der Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts Groß-Gerau vom 09.04.2020 aufgehoben. Die Akten werden dem Amtsgericht zur erneuten Abhilfeprüfung zurückgeleitet.

Hierzu führte das Gericht aus:

Das Verfahren leidet an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel. Es fehlt an der Durchführung der erforderlichen persönlichen Anhörung oder der Darlegung gegebenenfalls abgestufter Überlegungen zur Rechtfertigung eines Verzichts auf die persönliche Anhörung.

Die Akten enthalten lediglich einen 5-zeiligen Vermerk, wonach die Anhörung des Betroffenen nach §§ 319 Abs. 3, 34 Abs. 2 FamFG unterbleibe, weil angesichts der Corona-Pandemie erhebliche Nachteile für die Gesundheit des Betroffenen zu besorgen sind.

Dies genügt nach Überzeugung der Kammer in der Abwägung mit den Freiheitsgrundrechten des Betroffenen den gesetzlichen Anforderungen nicht.

Nach § 319 Abs. 3 FamFG kann bei einer Gesundheitsgefährdung des Betroffenen nur auf der Grundlage eines ärztlichen Gutachtens von der Anhörung abgesehen werden. In der derzeitigen Lage kann es dabei nicht nur um die vom Gesetz offenkundig gemeinte aktuelle gesundheitliche Situation des Betroffenen selbst gehen, sondern auch um die latente Gefährdung des Betroffenen durch einen möglicherweise (noch) unerkannt erkrankten, aber bereits infektiösen Richter.

Nicht geregelt ist, ob von der Anhörung abgesehen werden kann, weil hiervon erhebliche Nachteile für die Gesundheit des Richters zu besorgen sind, insbesondere wenn der Betroffene an einem ansteckenden Keim leidet. In diesem Fall ist nach der Kommentierung von Keidel zu § 319 FamFG, Rz. 10a die für Freiheitsentziehungssachen geltende Vorschrift des § 420 Abs. 2 analog anzuwenden. Danach kann die persönliche Anhörung des Betroffenen unterbleiben, wenn der Betroffene an einer übertragbaren Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes leidet. Bei Wegfall des Infektionsrisikos ist die Anhörung ggf. unverzüglich nachzuholen.

Dies kann indessen nur dann gelten, wenn eine Infektion des Betroffenen nachgewiesen ist, was vorliegend nach Lage der Akten nicht der Fall ist.

Im Lichte der Grundrechte und der gesetzlichen Regelungen ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Freiheit des Betroffenen ein sehr hohes Gut ist und die Verfahrensanforderungen bei Freiheitsbeschränkungen so hoch sind, so dass Anhörungen bestmöglich und grundsätzlich auch unter Erschwernissen durchzuführen sind, da gegenüber einem vollständigen Verzicht auf eine Anhörung stets etwaige mildere Mittel vorzuziehen sind.

Dazu sind die denkbaren Möglichkeiten der Durchführung einer Anhörung, die nicht zurückgestellt werden kann, im Einzelfall zu klären und das Ergebnis durch eine Bestätigung eines Arztes, eine Erklärung des Direktors des Amtsgerichts oder aber einen differenzierenden Aktenvermerk der Richterin oder des Richters zu den Akten zu dokumentieren.

Bei der Entscheidung über das verhältnismäßige Ob und Wie einer Anhörung sind z.B. die folgenden, als nicht abschließend zu verstehenden Fragen zu stellen:

a) Kann die Klinik oder Einrichtung für den Betroffenen und den Richter neben Desinfektionsmitteln ausreichend sichere Schutzkleidung bereitstellen (Gesichtsmasken, Einmal-Handschuhe, gegebenenfalls Schutzkleidung und Schutzbrille)?

b) Ist es möglich, die Anhörung über eine Abtrennung hinweg, z.B. eine Plexiglasscheibe, oder aber durch eine geschlossene Glastür bei gleichzeitiger telefonischer Verbindung zwischen Betroffenem und Richter in der Klinik oder Einrichtung zu führen?

c) Ist es möglich, die Anhörung mit dienstlicher Schutzkleidung oder durch eine Trennscheibe hindurch im Gericht zu führen? Dazu ist auch die Frage zu klären, ob und wie eine Betroffene oder ein Betroffener unter Wahrung des Abstandsgebots oder unter den erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen ins Gericht kommen oder gebracht werden kann.

d) Ist es möglich, die Anhörung unter Verwendung von vom Dienstherrn gestellter ausreichend sicherer Schutzkleidung (Gesichtsmasken, Einmal-Handschuhe, gegebenenfalls Schutzkleidung und Schutzbrille) und/oder Wahrung von genügend Abstand an einem weiteren Ort (z.B. beim Betroffenen zuhause oder in einem sehr großen Raum innerhalb des Klinikgeländes) durchzuführen?

e) Ist es möglich, die Anhörung mit einer Videokonferenz, gegebenenfalls mit kommerziellen Anbietern, durchzuführen?

f) Ist eine telefonische Anhörung möglich und sinnvoll?

g) Ist eine schriftliche Anhörung möglich und sinnvoll?

h) Muss von der Anhörung ganz abgesehen werden? In diesem Fall, der begründet werden müsste, ist zwingend ein Verfahrenspfleger zu bestellen. Außerdem ist die Anhörung bei noch laufenden Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen.

Eine vergleichbar differenzierende Abwägung ist dem Vermerk zum gänzlichen Verzicht auf eine Anhörung nicht zu entnehmen.


LG Darmstadt, 22.04.2020 - Az: 5 T 229/20

ECLI:DE:LGDARMS:2020:0422.5T229.20.00

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