Der EGMR hat in zwei Verfahren entschieden, dass der teilweise
Entzug des elterlichen Sorgerechts und die Inobhutnahme von Kindern der Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" angesichts der Gefahr körperlicher Züchtigungen zulässig ist.
In den vorliegenden Fällen sind vier Familien betroffen, die in zwei Gemeinschaften der Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" in Bayern lebten. Bei den Beschwerdeführern handelt es sich im ersten Fall um die Eltern der Familien Tlapak und Pingen, die zuvor in der Gemeinschaft in Wörnitz wohnten. Die Beschwerdeführer im zweiten Fall sind die Eltern und Kinder der Familien Wetjen und Schott, die vormals in der Gemeinschaft in Klosterzimmern zusammenlebten. Im Jahr 2012 berichtete die Presse, dass Mitglieder der Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" ihre Kinder körperlich züchtigen würden. Ein Jahr später schickte ein Fernsehjournalist mit einer versteckten Kamera gefilmtes Videomaterial an das örtliche Jugendamt und an das Familiengericht Nördlingen, auf dem die körperlichen Züchtigungen von Kindern verschiedener Altersstufen zwischen drei und zwölf Jahren zu sehen waren. Auf Antrag des Jugendamtes erließen die Familiengerichte sodann einstweilige Anordnungen für alle Kinder der "Zwölf Stämme"-Gemeinschaften, einschließlich der acht Kinder der Familien Tlapak, Pingen, Wetjen und Schott, wobei sie ihre Entscheidungen sowohl auf die Presseberichte als auch auf Aussagen ehemaliger Mitglieder der "Zwölf Stämme" stützten. Sie entzogen den Eltern einige Rechte, etwa das Recht der Aufenthaltsbestimmung, die elterliche Sorge um die Gesundheit und die elterliche Sorge in Schulangelegenheiten. Im September 2013 nahmen die zuständigen Jugendämter die Kinder der "Zwölf Stämme"-Gemeinschaften in Obhut. Einige der Kinder wurden in Kinderheimen untergebracht, andere in Pflegefamilien. Nachdem die Kinder der vier Familien in Obhut genommen worden waren, initiierten die Familiengerichte das Hauptsacheverfahren und beauftragten Psychologen mit Gutachten. Im Verfahren vor dem EGMR rügten die Familien Wetjen und Schott das einstweilige Verfahren und die Eltern Tlapak und Pingen das Hauptsacheverfahren. In beiden Verfahren kamen die Familiengerichte zu dem Schluss, dass es sich bei den Prügelstrafen um eine Misshandlung der Kinder handele und dass die Inobhutnahme der Kinder durch das Risiko gerechtfertigt sei, dass diese fortwährend solchen Misshandlungen ausgesetzt wären, würden sie bei ihren Eltern verbleiben. Die Gerichte kamen zu dieser Risikoeinschätzung, nachdem sie die Eltern, die Kinder (außer zwei Kinder, die zu jung waren, um befragt zu werden), die Verfahrensbeistände der Kinder und die Vertreter des Jugendamtes gehört hatten. Bei den Familien Tlapak und Pingen hörten die Gerichte auch den Psychologen, der mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt worden war, sowie den von den Beschwerdeführern beauftragten Gutachter. Im Fall der Familien Wetjen und Schott, welcher das einstweilige Verfahren betraf, stellten die Gerichte die Gutachtenerstattung des Psychologen bis zum Hauptsacheverfahren zurück. Die Familiengerichte lieferten zudem eine detaillierte Begründung, warum sie keine andere Möglichkeit als die Inobhutnahme sahen, um die betroffenen Kinder zu schützen. Insbesondere seien die Eltern noch während des gerichtlichen Verfahrens davon überzeugt gewesen, dass körperliche Züchtigungen eine legitime Methode der Kindererziehung seien. Aber auch selbst wenn die Eltern anderer Ansicht gewesen wären, könne nicht ausgeschlossen werden, dass nicht andere Mitglieder der "Zwölf Stämme" deren Kinder züchtigen würden.
Die familiengerichtlichen Verfahren wurden im August 2015 und Mai 2014 mit der ablehnenden Entscheidung des BVerfG, die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer zuzulassen, abgeschlossen. Die Eltern der Familie Tlapak zogen im Jahr 2015 in die Tschechische Republik und leben seither dort ohne ihren Sohn, der sich in einer Pflegefamilie befindet. Der Vollzug des Gerichtsbeschlusses betreffend den Sohn der Familie Pingen wurde im Dezember 2014 vorübergehend ausgesetzt, weil dieser erst ein Jahr und sechs Monate alt war und immer noch gestillt wurde. Die anderen Kinder der Familie Pingen, zwei Töchter, blieben in Pflegefamilien. Die älteste Tochter der Familie Schott kehrte im Dezember 2013 in die Gemeinschaft zurück, da sie mit ihren 14 Jahren mittlerweile nicht länger dem Risiko ausgesetzt war, körperlich bestraft zu werden. Die beiden Töchter der Familie Schott und der Sohn der Familie Wetjens blieben bis zum Abschluss des einstweiligen Verfahrens in Obhut. Unter Berufung insbesondere auf Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) rügten die Beschwerdeführer das Verfahren, in dem ihnen teilweise das elterliche Sorgerecht entzogen wurde und ihre Familien damit auseinander gerissen worden seien, sowie den teilweisen Entzug des elterlichen Sorgerechts. Sie machten auch geltend, dass das entsprechende Verfahren (das einstweilige Verfahren für die Familien Wetjen und Schott und das Hauptsacheverfahren für die Familien Tlapak und Pingen) unangemessen lang gewesen sei. Die Beschwerden wurden am 24.02.2016 (Tlapak u.a.) und am 17.10. und 14.11.2014 (Wetjen u.a.) beim EGMR eingereicht.
Der EGMR hat die Beschwerden der Eltern der Familien Tlapak und Pingen als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen, soweit diese geltend machten, dass das Hauptsacheverfahren im Sorgerechtsstreit übermäßig lang gewesen sei.
Nach Auffassung des EGMR konnten dem Familiengericht bei dem Gerichtsverfahren, dass sich über ein Jahr und elf Monate hingezogen hatte, keine außergewöhnlichen Verfahrensverzögerungen vorgeworfen werden. Im Gegenteil seien die Gerichte prozessfördernd gewesen: Sie hätten das Gutachten eines Psychologen in Auftrag gegeben, die Beschwerdeführer, ihre Kinder und weitere Zeugen angehört und Verhandlungen über eine gütliche Einigung zwischen den Beschwerdeführern und dem Jugendamt geführt.
In Anbetracht der einseitigen Erklärung der Regierung, dass Art. 8 EMRK hinsichtlich der Länge des einstweiligen Verfahrens der Wetjen und Schott verletzt wurde und mithin eine Entschädigung angeboten werde, hat der EGMR beschlossen, diesen Verfahrensteil aus dem Register streichen.
Der EGMR hat festgestellt, dass keine Verletzung von Art. 8 EMRK vorlag und im Ergebnis den Schlussfolgerungen der innerstaatlichen Gerichte zugestimmt.
Nach Auffassung des EGMR stellten die familiengerichtlichen Entscheidungen, den Beschwerdeführern die elterliche Sorge teilweise zu entziehen, einen Eingriff in deren Recht auf Achtung ihres Familienlebens dar. Zugleich sei zu berücksichtigen gewesen, dass diese Entscheidungen, die auf nationalem Recht fußten, auf der Wahrscheinlichkeit beruhten, dass die betroffenen Kinder weiter (nicht alle Kinder waren alt genug um nach den Regeln der "Zwölf Stämme" gezüchtigt zu werden, deswegen basierte es teilweise auf einer reinen Zukunftsprognose) körperlich gezüchtigt würden. Damit werde letztlich der Achtung der Rechte der betroffenen Kinder gedient. Darüber sei den Entscheidungen in beiden Fällen ein angemessener Entscheidungsprozess vorausgegangen. Den Beschwerdeführern sei Gelegenheit gegeben worden, mit Hilfe eines Rechtsbeistandes alle Gründe, die gegen den Entzug der elterlichen Sorge sprachen, vorzubringen. Die Gerichte hätten direkten Kontakt zu allen Beteiligten gehabt und hätten die Sachverhalte sorgfältig ermittelt. Zwar hätten die Familie Tlapak und die Familie Pingen jeweils ihre Zustimmung zur Erstattung des Gutachtens durch den Psychologen im Rahmen der Beweiserhebung widerrufen. Nichtsdestotrotz hätten die deutschen Gerichte zu Recht das Gutachten verwertet, gerade im Hinblick auf das hier vorliegende Allgemeininteresse daran, einen effektiven Schutz von Kindern durch familiengerichtliche Verfahren zu gewährleisten. Es sei auch akzeptabel, dass die Familiengerichte die Erstellung eines Gutachtens durch einen Psychologen hinsichtlich der Familie Wetjen und der Familie Schott im Verfahren der einstweiligen Anordnung nicht abgewartet hätten, da in solchen Verfahren besondere Schnelligkeit erforderlich sei. Wenngleich die Inobhutnahme von Kindern und die Trennung einer Familie einen sehr schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darstelle und nur als letzte Option in Betracht komme, beruhten die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte letztlich darauf, dass das Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung bestanden habe. Diese sei aber gerade nach der EMRK verboten. Die nationalen Gerichte hätten eine einzelfallbezogene Herangehensweise gewählt und hierbei berücksichtigt, ob sich das jeweils betroffene Kind in einem Alter befunden habe, in dem körperliche Züchtigungen drohten. Die Gerichte hätten auch ausführlich begründet, warum sie keine anderen Möglichkeiten zum Schutz der Kinder sahen.
Schließlich betrafen die vorliegenden Verfahren eine Form der institutionalisierten Gewalt gegen Minderjährige, die von den antragstellenden (beschwerdeführenden) Eltern als angemessene Erziehungsmethode betrachtet worden sei. Insoweit hätte jegliche Hilfeleistung durch das Jugendamt, etwa Schulungen für die Eltern, nicht in hinreichendem Maße die Kinder zu schützen vermocht, da die Eltern die körperliche Züchtigung als unerschütterliches Dogma in der Kindererziehung angesehen hätten. Daher hätten die innerstaatlichen Gerichte auf der Grundlage eines fairen Verfahrens einen Ausgleich zwischen den Interessen der antragstellenden Eltern und den Interessen der betroffenen Kinder gefunden, welcher sich innerhalb des weiten Ermessensspielraums gehalten habe, der den Gerichten bei der Prüfung der Gebotenheit einer Inobhutnahme von Kindern zugestanden werde.
Der EGMR hat zur Kenntnis genommen, dass die deutsche Regierung im Fall der Familie Wetjen u.a. erklärt hat, dass im Hinblick auf die Dauer des einstweiligen Verfahrens eine Verletzung von Art. 8 EMRK gegeben ist. Insoweit hat der EGMR Deutschland aufgefordert, den Beschwerdeführern Wetjen 9.000 Euro und den Beschwerdeführern Schott 8.000 Euro als materiellen und immateriellen Schadensersatz sowie die durch die Einreichung ihrer Beschwerde angefallenen Verfahrenskosten zu erstatten.