Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag zurückgewiesen.
Die vorzunehmende Folgenabwägung rechtfertigte die beantragte vorläufige Außervollzugsetzung von Vorschriften der Thüringer Verordnung zur Regelung infektionsschutzrechtlicher Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der Fassung vom 21. Januar 2022 nicht.
Die Antragstellerin hatte insbesondere die Verfassungsmäßigkeit der Ungleichbehandlung von immunisierten und nicht immunisierten Personen bei Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 bezweifelt.
Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bleibt dem Hauptsacheverfahren der abstrakten Normenkontrolle vorbehalten.
Hierzu führte das Gericht aus:
1. Wegen der meist weitreichenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 26 Abs. 1 ThürVerfGHG ein strenger Maßstab anzulegen. Bei der Prüfung bleiben die Gründe, die für oder gegen die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, grundsätzlich außer Betracht. Etwas anderes gilt nur, wenn der Antrag im Hauptsacheverfahren von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. In den übrigen Fällen sind die Nachteile, die eintreten, wenn die einstweilige Anordnung nicht ergeht, die Maßnahme später aber für verfassungswidrig erklärt wird, gegen die Folgen abzuwägen, die entstehen, wenn die Anordnung erlassen wird, die Maßnahme sich im Hauptsacheverfahren aber als verfassungsgemäß erweist. Dabei ist mit Rücksicht auf den Grundsatz der Gewaltenteilung für die vorläufige Aussetzung einer bereits in Kraft gesetzten Norm zu Grunde zu legen, dass an deren Vollzug grundsätzlich ein erhebliches Allgemeininteresse besteht.
Im Einzelfall kann einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch dann stattgegeben werden, wenn ein Antrag in der Hauptsache zulässig und offensichtlich begründet wäre und die Rechtsverletzung bei Verweigerung des einstweiligen Rechtsschutzes nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte.
2. Nach diesen Maßstäben liegen die Voraussetzungen für eine vorläufige Außervollzugsetzung der in Rede stehenden Vorschriften nicht vor.
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist nach dem gegenwärtigen Stand und im Hinblick auf die aktuell geltenden Vorschriften nicht davon auszugehen, dass der Normenkontrollantrag in der Hauptsache offensichtlich erfolgreich sein wird.
a) Es bestehen bereits Zweifel an seiner Zulässigkeit.
Der Antrag in der Hauptsache dürfte jedenfalls in Teilen bereits die Begründungsanforderungen nach § 18 Abs. 1 Satz 2 ThürVerfGHG verfehlen. Wird - wie hier - die Verfassungswidrigkeit mehrerer Normen oder einer gesamten Rechtsverordnung geltend gemacht, folgt aus der Begründungspflicht, dass die angefochtenen Normen genau bezeichnet werden und substantiiert dargelegt wird, aus welchen Gründen die Vereinbarkeit der Normen mit welchen Bestimmungen der Landesverfassung bezweifelt wird. Insofern dürfte es nicht genügen, im Sinne eines Obersatzes die als verletzt gerügten Normen pauschal zu benennen und in den anschließenden Ausführungen undifferenziert deren angebliche Verfassungswidrigkeit zu behaupten. Dies betrifft jedenfalls den gerügten Verfassungsverstoß der §§ 9, 11, 13, 14, 15, 17, 18, 18a ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO in der Fassung der Verordnung vom 21. Januar 2022. So beinhaltet etwa § 18 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO, der die besonderen Schutzmaßnahmen beinhaltet, eine Vielzahl unterschiedlichster Regelungsgegenstände, die sich ohne nähere Bezeichnung der angegriffenen Gegenstände wohl nicht den zur Verfassungswidrigkeit geltend gemachten Ausführungen zuordnen lassen.
Soweit die Antragstellerin die im Rahmen der Kontaktnachverfolgung nach § 12 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO normierten Eingriffe in das Grundrecht auf Datenschutz nach Art. 6 Abs. 2 ThürVerf bereits wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot des Art. 42 Abs. 3 Satz 2 ThürVerf für verfassungswidrig hält, begegnet auch dieses Vorbringen Bedenken hinsichtlich des Begründungserfordernisses nach § 18 Abs. 1 Satz 2 ThürVerfGHG. Hierzu gehört auch, dass zumindest in groben Zügen die verfassungsrechtlichen Maßstäbe dargelegt werden und erläutert wird, warum die angegriffenen Regelungen mit diesen nicht im Einklang stehen.
Mit Blick auf die Rüge zu § 12 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO dürfte es an einer Auseinandersetzung damit fehlen, dass das Zitiergebot des Art. 42 Abs. 3 Satz 2 ThürVerf nicht ausnahmslos gilt. Insofern ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, dass die Warn- und Besinnungsfunktion des Zitiergebots von geringerem Gewicht erscheint, wenn dem Normgeber in der Regel ohnehin bewusst ist, dass er sich im grundrechtsrelevanten Bereich bewegt. Durch eine Erstreckung des Zitiergebots auf solche Regelungen würde es zu einer die Normgebung unnötig behindernden leeren Förmlichkeit kommen. Eine Auseinandersetzung mit diesen Maßstäben drängt sich hier deshalb auf, weil die von der Antragstellerin gerügte Vorschrift des § 12 ThürSARS- CoV-2-IfS-MaßnVO im Zusammenhang mit den Regeln zur Kontaktnachverfolgung auf § 3 Abs. 4 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO verweist, der seinerseits die datenschutzrechtlichen Bestimmungen in Bezug nimmt, die nach seinem letzten Satz im Übrigen unberührt bleiben.
Vor diesem Hintergrund kann allenfalls davon ausgegangen werden, dass der Antrag in der Hauptsache hinsichtlich der von der Antragstellerin ebenfalls als verfassungswidrig gerügten Norm des § 28 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO den Begründungsanforderungen nach § 18 Abs. 1 Satz 2 ThürVerfGHG genügt.
b) Ein Erfolg des Normenkontrollantrags in der Hauptsache ist, soweit er nicht bereits unzulässig sein dürfte, als offen anzusehen. Jedenfalls führt die im Wesentlichen von der Antragstellerin geltend gemachte ungerechtfertigte Benachteiligung nicht immunisierter (insbesondere ungeimpfter) Personen nicht offensichtlich zur Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Verordnungsbestimmung des § 28 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO. Der von der Antragstellerin vorgetragene Vorwurf eines Verstoßes gegen die Menschenwürde ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen immunisierten und nicht immunisierten Personen nicht schlechthin.
Die unterschiedlichen Regelungen für immunisierte Personen einerseits und nicht immunisierte Personen andererseits lassen jedenfalls auf Grund des Vortrags im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eine den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 2 Abs. 1 ThürVerf verletzende Ungleichbehandlung nicht erkennen. Insofern kann hierin auch keine die Menschenwürde des Art. 1 ThürVerf verletzende Nichtachtung des „Anspruch auf elementare Rechtsgleichheit“ gesehen werden.
Mit dem Einwand, die Ungleichbehandlung von Immunisierten und Nichtimmunisierten sei verfassungswidrig, weil die Impfung keine sterile Immunität vermittle und auch Geimpfte, zumal angesichts der schon nach einigen Monaten nachlassenden Impfwirkung, sich infizieren und infektiös werden könnten, hält die Antragstellerin dem Verordnungsgeber im Ergebnis ihre eigene Einschätzung und Gefahrenbewertung entgegen, ohne damit einen offensichtlichen Verfassungsverstoß aufzuzeigen.
Ob sich aus diesen oder anderen Gesichtspunkten hinsichtlich der angegriffenen Bestimmungen der Landesverordnung ein möglicher Verfassungsverstoß ergibt, muss im einstweiligen Anordnungsverfahren offenbleiben und ist der Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof nimmt das Verfahren auch zum Anlass, auf Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der angegriffenen Regelungen mit dem Begründungserfordernis nach § 28a Abs. 5 IfSG hinzuweisen. Dies betrifft zunächst eine gegenüber dem Verordnungserlass vom 24. November 2021 veränderte Tatsachengrundlage. Gesteigerte Begründungsanforderungen ergeben sich ferner, wenn Maßnahmen nach § 28a Abs. 2 IfSG, wie nächtliche Ausgangsbeschränkungen, die nur als ultima ratio ergriffen werden dürfen, über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden.
3. Da die Erfolgsaussichten in der Hauptsache mithin als offen anzusehen sind, ist eine Rechtsfolgenabwägung vorzunehmen. Die nachteiligen Folgen, die ohne die einstweilige Anordnung für den Fall des Obsiegens in der Hauptsache zu erwarten sind, müssen im Vergleich zu den nachteiligen Folgen, die sich bei Erlass der einstweiligen Anordnung für den Fall der Erfolglosigkeit in der Hauptsache ergeben, deutlich überwiegen, da sonst bei vergleichender Betrachtungsweise gerade kein schwerer Nachteil im Sinne des Gesetzes droht.
Eine Folgenabwägung gebietet es vorliegend nicht, die begehrte einstweilige Anordnung zu erlassen.
a) Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht und hätte die abstrakte Normenkontrolle im Hauptsacheverfahren Erfolg, wären alle Untersagungen und Beschränkungen mit ihren von der Antragstellerin beschriebenen, grundrechtsrelevanten und durchaus massiven, überwiegend irreversiblen Belastungen für eine Vielzahl von nicht immunisierten Personen zu Unrecht erfolgt. Die betroffene Personengruppe wären in erheblicher Weise in der unbeschränkten Ausübung ihrer Grundrechte - insbesondere der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 3 Abs. 2 ThürVerf; Art. 2 Abs. 1 GG) und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 ThürVerf; Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) - betroffen, nach der derzeitigen Rechtslage jedenfalls noch bis zum 8. Februar 2022 (vgl. § 39 Abs. 1 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO zum Außerkrafttreten der Verordnung). Sie ist durch die angegriffenen Regelungen in der Gestaltung ihres privaten Lebensbereichs, wie auch ihrer Teilnahme am öffentlichen Leben vielfach beschränkt. Fälle, in denen eine Impfung bei generalisierender Betrachtung jedenfalls als unzumutbar erscheint, hat der Normgeber berücksichtigt. Insofern ist darauf hinzuweisen, dass nach § 28 Abs. 3 Nrn. 2 und 3 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO die nächtliche Ausgangsbeschränkung des Absatzes 1 der Vorschrift weder für Kinder gilt, die noch nicht zwölf Jahre und drei Monate alt sind, noch für Personen, die ein ärztliches Attest vorlegen, dass sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden können oder deswegen innerhalb der letzten drei Monate vor dem Aufenthalt nach Absatz 1 nicht geimpft werden konnten. Ferner sind die Beschränkungen nicht solcher Art, dass sie jede Aktivität im privaten wie im öffentlichen Bereich unterbinden würden. Dies zeigen die doppelte zeitliche Einschränkung der Norm (die Ausgangsbeschränkung gilt nicht außerhalb der Nachtstunden und ist nach § 39 Abs. 1 ThürSARS-CoV-2-IfS-MaßnVO jedenfalls derzeit nur noch wenige Tage gültig) und insbesondere auch der nicht abschließende Katalog der triftigen Gründe in Absatz 2 der Vorschrift, die nichtimmunisierten Personen den Aufenthalt außerhalb der Wohnung oder Unterkunft oder außerhalb des jeweils zugehörigen befriedeten Besitztums auch weiterhin innerhalb des Zeitfensters von 22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetages erlauben und damit das Verbot durch umfassende Ausnahmen in Gestalt der triftigen Gründe durchbrechen.
b) Würde hingegen die beantragte einstweilige Anordnung ergehen, erwiese sich die Verordnung im Hauptsacheverfahren aber als rechtmäßig, träte damit eine konkrete - wie auch durch die Fallzahlenentwicklung in Thüringen belegte - Steigerung der Risiko- und Gefährdungslage ein, die auch im Hinblick auf die erheblich angestiegene Ansteckungsgefahr durch die neue Virusvariante Omikron wesentlich erhöht ist. Über 300 000 Infektionen, über 6 000 durch bzw. mit dem Corona-Virus Verstorbene sowie die erhebliche Zahl der Hospitalisierungen und der intensivmedizinischen Behandlungen seit Beginn der Pandemie in Thüringen mit einer verstärkenden Tendenz des Auftretens der ein erhöhtes Übertragungsrisiko aufweisenden Omikron-Variante des Virus, ferner die zunehmenden Erkenntnisse über Langzeitfolgen von COVID-19 belegen dies und begründen eine Handlungspflicht des Staates. Auch eine nur vorläufige Außervollzugsetzung nach § 26 Abs. 1 ThürVerfGHG kann eine konkrete Gefahr für Gesundheit, Leib und Leben einer unüberschaubaren Vielzahl von Menschen begründen.
Hierbei ist auch von erheblichem Belang, dass die Außervollzugsetzung der angegriffenen Vorschriften das Regelungskonzept des Normgebers nahezu vollständig entwerten würde. Dies würde die praktische Wirksamkeit der komplexen Pandemiebekämpfungsstrategie in einem Ausmaß beeinträchtigen, das dem Gebot zuwiderliefe, von der Befugnis, den Vollzug einer in Kraft getretenen Norm auszusetzen, wegen des erheblichen Eingriffs in die Gestaltungsfreiheit des Normgebers nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch zu machen. Die Möglichkeit, geeignete und erforderliche Schutzmaßnahmen zu ergreifen und so die Verbreitung der Infektionskrankheit zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung, einem mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 Satz 1 ThürVerf und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG überragend wichtigen Gemeinwohlbelang, effektiver zu verhindern, bliebe zumindest zeitweise bis zu einer Reaktion des Verordnungsgebers (irreversibel) ungenutzt.