Es bleibt offen, ob es verfassungsrechtlich geboten ist, im Infektionsschutzgesetz Ausgleichs- und Entschädigungsregelungen zur Abmilderung der schwerwiegenden Grundrechtseingriffe aufgrund von Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung der COVID-19-Krankheit zu schaffen (ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmungen). Bei der deshalb gebotenen Abwägung zeitlich befristeter Eingriffe in Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG mit dem Grundrecht behandlungsbedürftiger, teilweise lebensbedrohlich erkrankender Personen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG setzt sich der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit durch.
Der Entscheidung lag der nachfolgende Sachverhalt zugrunde:
Die Antragstellerinnen begehren die Außervollzugsetzung verschiedener Regelungen der Neunten Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Sachsen-Anhalt vom 15. Dezember 2020 (GVBl. LSA S. 696), zuletzt geändert durch die Verordnung zur Änderung der Neunten SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung vom 17. Dezember 2020 (GVBl. LSA S. 723), im Folgenden: 9. SARS-CoV-2-EindV.
Die Antragstellerinnen sind Betreiberinnen zweier Hotels, die neben 166 bzw. 149 Zimmern jeweils über mehrere Veranstaltungsräume für bis zu 140 bzw. 400 Personen, Restaurants, eine Bar und Wellness-, Fitness-, Schwimmbad-, Sauna-/Dampfbadbereich verfügen. Die Antragstellerinnen gehören der D. Hotel Gruppe unter der Muttergesellschaft D. Hotel GmbH mit mehr als 60 Hotels und Resorts an. Sie und ihre Konzernmuttergesellschaft haben nach eigenen Angaben zur Überwindung der Folgen des ersten Lockdowns eine Finanzierung in Höhe von 47,5 Mio. Euro aufgenommen, was dem Zehn- bis Zwanzigfachen der Jahresergebnisse der Gruppe aus den letzten Jahren entspreche. Die Antragstellerinnen hatten bereits am 2. November 2020 einen Antrag auf Außervollzugsetzung mehrerer Regelungen der 8. SARS-CoV-2-EindV im Zusammenhang mit dem sog. zweiten Lockdown gestellt, den der Senat mit Beschluss vom 4. November 2020 - Az:
3 R 218/20 - abgelehnt hatte.
Die Antragstellerinnen machen geltend, der Senat habe im Beschluss vom 4. November 2020 entscheidend darauf abgestellt, dass der Eingriff in ihre Rechte durch die „Neuen Corona-Hilfen für betroffene Unternehmen“ gemildert sei. Dabei sei der Senat davon ausgegangen, dass diese Hilfen zeitnah und in ausreichendem Maße gewährt würden, um eine gebotene und erhebliche Abmilderung der Intensität der Eingriffe gegenüber den Betroffenen darzustellen. Die Realität habe sich jedoch anders gezeigt als der Senat prognostiziert habe. Die Novemberhilfen seien als „Billigkeitsleistung ohne Rechtsanspruch“ gestaltet worden. Dadurch seien sie nicht einmal bilanzierbar, um zur Verhinderung der Insolvenz genutzt werden zu können. Da die Hilfen auf die Obergrenze von 1 Mio. Euro beschränkt seien und verbundene Unternehmen nur einen Antrag stellen dürften, gelte die Grenze für die gesamte Unternehmensgruppe. Angesichts der ca. 40 eigenen Hotelbetriebe der hier betroffenen Gruppe und des Rückgangs der Umsatzerlöse gegenüber dem Vorjahresmonat November um rund 21,1 Mio. Euro wären die Hilfen nicht einmal ein „Tropfen auf den heißen Stein“. Die bisherigen Hilfsprogramme seien diskriminierend. Bei einer Aufspaltung der Pachtbetriebe der Unternehmensgruppe in nicht verbundene Einzelgesellschaften läge der anhand des Umsatzes im November des Vorjahres zu berechnende Erstattungsbetrag bei rund 14 Mio. Euro. Als Unternehmensgruppe erhalte man nur eine (bislang nicht ausgezahlte) Abschlagszahlung von 10.000 Euro und nach Überprüfung eine Billigkeitsentschädigung von nur 1 Mio. Euro. Der klare Verstoß gegen den Gleichheitssatz belaste einmal mehr die konzernangehörigen Unternehmen. Soweit die Gleichsetzung von Unternehmensgruppe und Unternehmen mit nur einem Betrieb beihilferechtlich gerechtfertigt werde, sei die Ungleichbehandlung auf eine falsche Konzeption und Anwendung der Förderprogramme zurückzuführen. Die Zahlungen seien als Entschädigung für den durch die Maßnahmen zugefügten Schaden und Ausgleich für ein Sonderopfer zu gewähren, der verfassungsrechtlich geboten sei. Es handele sich hier nicht um Subventionen, da die Zuwendungen nicht gewährt würden, um ein bestimmtes Verhalten zu fördern, sondern um Unternehmen in einer dringenden sozialen Notlage zu helfen. Zudem sei unklar, ob die Unternehmensgruppe den Betrag der „Novemberhilfe“ erhalten werde, da Kurzarbeitergeld als anderweitige „Förderung“ angerechnet werde und das Kurzarbeitergeld bei 40 Betrieben den Betrag von 1 Mio. Euro übersteige. Ob und unter welchen Bedingungen es zusätzliche Hilfen gebe, die unter dem Begriff „Novemberhilfe Plus“ diskutiert würden, sei unklar. Bislang handele es sich lediglich um unverbindliche Ankündigungen. Die durch die 9. SARS-CoV-2-EindV geltenden Betriebsbeschränkungen hätten das Potential, existenzvernichtend zu wirken. Ein so schwerwiegender Eingriff sei ausgleichspflichtig. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und insgesamt ihrer Rechtspositionen sei deutlich überschritten, wenn sie den Eingriff ohne Ausgleich hinzunehmen hätten. Ein Ausgleich müsse klar geregelt und leicht zu erreichen sein. Es komme der Verweigerung eines Ausgleichs gleich, wenn dieser zu spät komme, weil er z.B. durch mehrere Instanzen gerichtlich durchgesetzt werden müsse. Der Antragsgegner sei in erster Linie dafür verantwortlich, die Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen Maßnahmen nach der 9. SARS-CoV-2-EindV sicherzustellen. In diesem Zusammenhang sei es unerheblich, dass das IfSG keine explizite Entschädigungsregelung für Maßnahmen nach §§ 28, 28a vorsehe. Das Bundesverfassungsgericht habe in seiner Entscheidung vom 11. November 2020 (1 BvR 2530/20) bereits festgehalten, dass die Restriktionen einen schwerwiegenden Eingriff in die Berufsfreiheit darstellten, jedoch dem Antrag des Beschwerdeführers nur deshalb nicht stattgegeben, weil er die existenzielle Gefährdung nicht nachgewiesen habe. Die Prämissen des Bundesverfassungsgerichts seien inzwischen überholt, weil der Lockdown verlängert worden sei, weitere Verlängerungen drohten und Staathilfen bis heute nicht ausgezahlt worden seien. Entsprechendes gelte für die Entscheidung des Senats vom 4. November 2020, zumal die Bundesregierung im Wirtschaftsausschuss vorgetragen habe, dass die Dezemberhilfen nicht vor März bearbeitet würden. Das Bundesverfassungsgericht habe auch in der Entscheidung vom 29. September 2020 zur 16. Atomnovelle (Az: 1 BvR 1550/19) ausgeführt, dass es sich um entschädigungspflichtige Vorgänge handele, die nichts mit Beihilfefragen zu tun hätten. Sollte ein gesetzgeberischer Wille angenommen werden, dass es keine Entschädigung im Zusammenhang mit Maßnahmen nach § 28a IfSG geben solle, stelle sich die Frage, ob diese Regelung im Zusammenhang mit den Entschädigungsregelungen des 12. Abschnitts verfassungskonform sei. Bei schwerwiegendem grundrechtsbezogen Eingriff und existenziell nachgewiesener Not seien auch Nichtstörer vor einem „finalen Ende“ (Insolvenz) zu schützen. Weiter tragen die Antragstellerinnen zu ihrer wirtschaftlichen Situation vor: Nach der Differenzanalyse ihrer Muttergesellschaft ergebe sich zum Jahreswechsel eine Deckungslücke von 4,9 Mio. Euro. Ohne Entschädigung erhöhe sich die Unterdeckung dramatisch bis April 2021 zu einem Spitzenwert von ca. 26,4 Mio. Euro. Durch die simulierte Verlängerung der Maßnahmen käme man in die Situation, dass die von der Muttergesellschaft ergriffenen Einsparungsmöglichkeiten, die Eigenkapitalzuführung und der Kredit nicht mehr ausreichten, um den Liquiditätsengpass zu schließen. Ein deshalb erforderlicher weiterer Kredit sei angesichts der mit dem ersten Kredit übernommenen Verschuldung und der Gewährung bzw. Verpfändung von Sicherheiten wahrscheinlich nicht zu erlangen. Ein von der Konzernmuttergesellschaft aufzunehmendes Darlehen würde zudem das Jahresendergebnis 2019 um das 20-fache übersteigen. Ohne Beteiligung der Verpächter, Eigenkapitalzuführung und sonstige Maßnahmen hätten sie, die Antragstellerinnen, damit in den nächsten 15 bis 20 Jahren keine Aussicht auf Erträge. Auch die Erwägung, dass die betroffenen Unternehmen auch ohne die Corona-Maßnahmen in eine gleiche Lage geraten wären, greife nicht durch, wenn die Unternehmen - wie sie, die Antragstellerinnen - nicht 75 Prozent der Umsatzerlöse des Vorjahresmonats erhielten. Zudem ergebe die Analyse der Belegungen im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr, dass nicht ein verändertes Verbraucherverhalten zu „Folge-Einbrüchen“ geführt habe, sondern ausschließlich die Eingriffe in die Berufsfreiheit durch Beherbergungsverbote, kapazitätsmindernde Abstandsgebote in der Gastronomie und die Verbote hausinterner Veranstaltungen.
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