Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Bulgarien im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
Die Antragsgegnerin richtete, nachdem der Antragsteller am 3. November 2022 (im unionsrechtlichen Sinn) einen Asylantrag gestellt hatte, ein Wiederaufnahmegesuch gemäß Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) an Bulgarien, das die dortigen Behörden mit Schreiben vom 3. Januar 2023 akzeptiert haben. Mit Bescheid vom 11. Mai 2023, dem Antragsteller zugestellt am 16. Mai 2023, lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids), verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG und ordnete die Abschiebung nach Bulgarien an (Nrn. 2 und 3 des Bescheids). Das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4 des Bescheids). Dieser Bescheid wurde am 24. Mai 2023 bestandskräftig.
Mit Schreiben der Zentralen Ausländerbehörde ... vom 26. Juni 2023, zugestellt am 29. Juni 2023, wurde dem Antragsteller der Termin für seine Überstellung nach Bulgarien am 3. Juli 2023, 7:30 Uhr angekündigt. Der Antragsteller wurde aufgefordert, sich am 3. Juli 2023 um 4:30 Uhr für seine Abholung bereitzuhalten. Der Antragsteller wurde nochmals gemäß § 50 Abs. 4 AufenthG darauf hingewiesen, dass er verpflichtet sei, jeden Wohnortwechsel oder das Verlassen des Bezirks der Ausländerbehörde für mehr als drei Tage der zuständigen Ausländerbehörde anzuzeigen.
Ausweislich des Behördenakts haben die zuständigen Polizeibeamten am 3. Juli 2023 um 3:00 Uhr morgens die Gemeinschaftsunterkunft betreten und den Antragsteller nicht in seinem Zimmer angetroffen. Seine persönlichen Sachen seien aber noch in der Unterkunft gewesen. Die Antragsgegnerin hat am 3. Juli 2023 den bulgarischen Behörden mitgeteilt, dass der Antragsteller flüchtig sei und demnach die 18-monatige Überstellungsfriste gelte.
Mit seinem am 25. September 2023 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz beantragt der Antragsteller,
im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass die Überstellungsfrist abgelaufen ist.
Zur Begründung wird zusammengefasst im Wesentlichen ausgeführt, dass sich der Anordnungsanspruch aus Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ergebe. Der Antragsteller sei unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 17.08.2021 - Az: 1 C 26.20) nicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO flüchtig gewesen. Für die Annahme des Flüchtigseins sei subjektiv erforderlich, dass sich der Antragsteller gezielt und bewusst den nationalen Behörden entziehe und seine Überstellung vereiteln wolle. Der Antragsteller habe die Unmöglichkeit seiner Überstellung nicht beabsichtigt, sondern sich lediglich von seiner Familie verabschieden wollen. Ferner sei darauf hinzuweisen, dass das tatsächliche Eintreffen der Polizei – 3:00 Uhr – von der angekündigten Abholzeit – 4:30 Uhr – abweiche. Der Antragsteller hat vorgerichtlich unter anderem noch angegeben, dass er am 3. Juli 2023 in der Notfallambulanz gewesen sei und hat diesbezüglich einen Aufnahmebericht vorgelegt.
Die Antragsgegnerin hat die Behördenakte vorgelegt, aber keinen Antrag gestellt und sich zur Sache nicht geäußert.
Hierzu führte das Gericht aus:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
1. Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist in der vorliegenden Konstellation zulässig. Auch wenn vorläufiger Rechtsschutz gegen eine Abschiebungsanordnung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen ist, ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass um vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO nachgesucht werden kann, wenn nach Eintritt der Bestandskraft der Abschiebungsanordnung eine Veränderung der Sach- und Rechtslage erfolgt, welche die Abschiebung unmöglich macht. In diesem Fall sichert der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO den in der Hauptsache zu verfolgenden Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ab. Ob der geltend gemachte Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens in der Sache besteht bzw. glaubhaft gemacht wurde, ist eine Frage der Begründetheit des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO.
2. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Dabei hat ein Antragsteller sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Maßgebend hierfür sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
Gemessen an diesen Anforderungen hat der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Entgegen seiner Rechtsauffassung ist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen. Das Gericht teilt vielmehr die Rechtsauffassung des Bundesamts, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung am 3. Juli 2023 gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO flüchtig gewesen ist.
a) Der in der Dublin III-Verordnung verwendete Begriff des Flüchtigseins ist nicht legal definiert. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, auf die die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Bezug nimmt, ist der Begriff als Voraussetzung für ein ausnahmsweises Abweichen von der grundsätzlich einzuhaltenden sechsmonatigen Überstellungsfrist eng auszulegen. Ein Antragsteller ist flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Damit setzt der Begriff „flüchtig“ objektiv voraus, dass sich der Antragsteller den zuständigen nationalen Behörden entzieht und die Überstellung hierdurch tatsächlich (zumindest zeitweise) unmöglich macht. Das Verhalten des Antragstellers muss kausal dafür sein, dass er nicht an den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden kann. Subjektiv ist erforderlich, dass sich der Antragsteller gezielt und bewusst den nationalen Behörden entzieht und seine Überstellung vereiteln will. Ein Flüchtigsein kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde. Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, den Beweis für die innere Tatsache der Entziehungsabsicht zu führen, darf (grundsätzlich) aus dem Umstand des Verlassens der zugewiesenen Wohnung, ohne die Behörden über die Abwesenheit zu informieren, zugleich auf die Absicht geschlossen werden, sich der Überstellung zu entziehen, sofern der Betroffene ordnungsgemäß über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde. Wie aus der Verwendung der Zeitform des Präsens in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO („flüchtig ist“) folgt, muss der Antragsteller im Zeitpunkt der Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist noch (aktuell) flüchtig sein, die Flucht also noch fortbestehen.
Grundsätzlich reicht allerdings bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Antragstellers weder ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei flüchtig. Flüchtigsein ist mehr als eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. Bei einer kurzen und vorübergehenden Abwesenheit ist der Staat weder rechtlich noch tatsächlich an der Durchführung einer (zwangsweisen) Überstellung gehindert. Dies gilt wiederum aber nur insoweit, solange keine Anhaltspunkte für eine längere Ortsabwesenheit oder für ein gezieltes Entziehen vorliegen, etwa wenn der Betroffene in Kenntnis einer konkret bevorstehenden Überstellung oder generell zu den üblichen Abholzeiten in der ihm zugewiesenen Wohnung oder Unterkunft im Sinne eines gezielten Ab- und Wiederauftauchens nicht anwesend oder auffindbar ist.
b) Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben war der Antragsteller am 3. Juli 2023 im Zeitpunkt des Aufgriffsversuchs (um 3:00 Uhr) sowie im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung (um 13:45 Uhr) flüchtig. Das Gericht ist anhand der vorliegenden Gesamtumstände (auf deren Bewertung das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich verweist) davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass sich der Antragsteller in Kenntnis des ihm bekanntgegebenen Überstellungstermins seiner Überstellung gezielt entzogen hat. Angesichts des dem Antragsteller mitgeteilten Überstellungstermins, der Angaben im Polizeibericht sowie der eigenen Angaben des Antragstellers im gerichtlichen Verfahren (einschließlich der vorgelegten Dokumente) liegen objektive Umstände von ausreichendem Gewicht vor, die auf eine subjektive Vereitelungsabsicht schließen lassen. Das Gericht geht nach der vorgelegten Erklärung seines Bruders und seines Cousins, von denen er sich nach eigenen Angaben verabschieden wollte, davon aus, dass er sich in der Nacht vom 2. auf den 3. Juli 2023 bei ihnen aufgehalten hat. Ein anderer Geschehensablauf erscheint dem Gericht angesichts der Schilderung, dass es dem Antragsteller am 3. Juli 2023 schlechter gegangen sei als am Vortag und dass er deshalb von seinem Bruder bzw. Cousin am 3. Juli 2023 in die Notaufnahme gefahren worden sei, nicht plausibel. Dem Antragsteller kann angesichts dieser Umstände nicht unbekannt gewesen sein, dass ihn die Polizeibeamten zum angekündigten Abholtermin nicht in seinem Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft antreffen würden. Seine Abwesenheit aus der Gemeinschaftsunterkunft bzw. seinen konkreten Aufenthaltsort hatte der Antragsteller auch weder der Ausländerbehörde noch dem Bundesamt mitgeteilt. Aus diesem Grund verfängt auch der Einwand der Bevollmächtigten, die Polizeibeamten hätten um 3:00 Uhr vor dem angekündigten Abholtermin das Zimmer des Antragstellers betreten, nicht. Das verfrühte Eintreffen der Polizeibeamten in der Gemeinschaftsunterkunft war insofern nicht kausal für das dortige Nichtantreffen des Antragstellers.
Ebenfalls nicht durchgreifend ist der Einwand der Bevollmächtigten, dass keine subjektive Entziehungsabsicht nachweisbar sei, weil sich der Antragsteller am 3. Juli 2023 wegen Unwohlseins in die Notaufnahme begeben habe. Das Bundesamt hat diesem Einwand schon vorgerichtlich zurecht die Tatsache entgegengesetzt, dass sich aus dem vorgelegten Bericht der Notfallambulanz entnehmen lässt, dass der Antragsteller am Nachmittag des 3. Juli 2023 dort vorstellig bzw. behandelt wurde und es insofern an einem zeitlichen Zusammenhang zum Nichtantreffen am Morgen des 3. Juli 2023 fehle. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall deutlich von anderen Fällen aus der Rechtsprechung, in denen aufgrund einer kurzfristig erforderlichen ärztlichen Behandlung eine subjektive Entziehungsabsicht verneint wurde.
Der Antragsteller war auch im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung am 3. Juli 2023 noch flüchtig. Anhand des vom Antragsteller vorgelegten Berichts der Notfallambulanz lässt sich verlässlich beurteilen, dass der Antragsteller nicht bereits wenige Stunden nach dem Aufgriffsversuch wieder in der ihm zugewiesenen Unterkunft aufhältig war. Etwas Gegenteiliges hat der Antragsteller im gerichtlichen Verfahren jedenfalls nicht substantiiert vorgetragen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).