Die Klägerinnen begehren über das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Bescheid vom 20. April 2023 festgestellte Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinaus die Zuerkennung subsidiären Schutzes wegen einer ernsthaften Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in ihrem Heimatland Jemen.
Am 12. Dezember 2022 reisten die Klägerinnen, jemenitische Staatsangehörige, aus Belgien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 10. Januar 2023 einen Asylantrag. Die Klägerin zu 2. ist die minderjährige Tochter der Klägerin zu 1. Bei ihrer Anhörung gab die Klägerin zu 1. im Wesentlichen an, sie habe ihr Heimatland aufgrund der fehlenden Sicherheit in ihrer Heimatstadt Al Mukalla in der Provinz Hadramaut verlassen. Die Situation sei im ganzen Land seit Ausbruch des Bürgerkrieges sehr gefährlich und man könne nirgendwo im Jemen in Frieden leben. Bei einer Rückkehr fürchte sie Probleme wegen der der fehlenden Versorgung sowie der Armut, Arbeitslosigkeit und Zerstörungen.
Mit Bescheid vom 20. April 2023 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerinnen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab. In Nr. 4 des Bescheids vom 20. April 2023 wurde festgestellt, dass das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliege.
Auf die von den Klägerinnen erhobene Klage, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hob das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 20. Juni 2023 den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. April 2023 in Nr. 3 auf und verpflichtete die Beklagte, den Klägerinnen subsidiären Schutz zuzuerkennen.
Hiergegen beantragte die Beklagte die Zulassung der Berufung, die vom Senat mit Beschluss vom 18. Oktober 2023 (Az. 15 ZB 23.30555) zugelassen wurde. Die Beklagte begründete die Berufung mit einer Divergenz der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu den Senatsentscheidungen vom 3. Juli 2023 (Az. 15 B 23.30185 u.a.). Danach habe der Senat die Gewährung subsidiären Schutzes abgelehnt, weil das Risiko, im gesamten Jemen durch willkürliche Gewalt infolge eines bewaffneten Konflikts Schaden zu erleiden, zwischenzeitlich unterhalb der Schwelle der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit liege.
Die Beklagte beantragt,
das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts vom 20. Juni 2023 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerinnen haben keinen Antrag gestellt und sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.
Hierzu führte das Gericht aus:
Die zulässige Berufung der Beklagten, über die nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a VwGO entschieden wird, weil der Senat die Berufung einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, hat Erfolg.
Die Klägerinnen haben – anders als das Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 20. Juni 2023 entschieden hat – über die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Bescheid vom 20. April 2023 zugesprochene Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinaus zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Ein Ausländer ist subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht (§ 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG gelten als ernsthafter Schaden die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) sowie eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Nach dem Vortrag der Klägerinnen, die sich im Berufungsverfahren nicht mehr geäußert haben, ist hier bezüglich Jemen allenfalls eine drohende individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG relevant und streitig.
Im Jemen besteht seit 2014 ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Es fehlt jedoch inzwischen und aktuell (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge des Konflikts im Jemen.
1. Bei der Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bzw. Art. 15 Buchst. c der RL 2011/95/EU vorliegt, ist eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslands der Klägerinnen kennzeichnen, erforderlich. Konkret können auch insbesondere die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte und die Dauer des Konflikts als Faktoren berücksichtigt werden, die bei der Beurteilung der tatsächlichen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 15 Buchst. c der RL 2011/95/EU zu berücksichtigen sind, ebenso wie andere Gesichtspunkte, etwa das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort der Klägerinnen bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die eventuell mit Absicht erfolgt.
2. Sowohl die politische als auch die Sicherheitslage im Jemen und auch in der Provinz Hadramaut, in die die Klägerinnen voraussichtlich zurückkehren werden, stellt sich nach wie vor insgesamt ausgesprochen volatil dar.
Jemen liegt im Südwesten der Arabischen Halbinsel, grenzt im Westen an das Rote Meer, im Süden an den Indischen Ozean (Golf von Aden), im Osten an Oman sowie im Nordosten und Norden an Saudi-Arabien. Die Hauptstadt des Landes ist Sanaa; es gibt 21 Gouvernements und einen Hauptstadtbezirk.
Der bewaffnete Konflikt zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung und ihren Unterstützern dauert nach wie vor an. Es kommt immer wieder zu Kämpfen zwischen diesen Gruppen in den südlichen Provinzen Abyan, Shabwai sowie vereinzelt in Aden. Daneben kommt es auch in Taizz immer wieder zu Kämpfen. Teile des Landes sind von täglichen Bombardierungen, Raketenangriffen und Kampfhandlungen am Boden betroffen. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat der Konflikt seit März 2015 eine erhebliche Anzahl ziviler Opfer gefordert. Die fortdauernden Kampfhandlungen stellen für die Zivilbevölkerung weiterhin eine erhebliche Gefährdung dar. Ein Ende des Jemen-Konflikts ist nicht absehbar. Die staatlichen Institutionen sind landesweit nur noch sehr eingeschränkt funktionsfähig. Bereits im September 2014 hatten Milizen der schiitisch-zaiditischen Huthi-Bewegung die Kontrolle über weite Landesteile, darunter auch die Hauptstadt Sanaa, übernommen und auch Teile der Sicherheitskräfte unter ihre Kontrolle gebracht. Die staatlichen Sicherheitsorgane sind nur bedingt funktionsfähig und können im Einzelfall keinen ausreichenden Schutz garantieren. Die südjemenitische Bewegung („al-hirak al-ganubi“) strebt die Unabhängigkeit bzw. Autonomie des seit 1990 mit dem Nordjemen vereinigten Südens an. Es kommt weiterhin sehr rasch zu Versorgungsengpässen und Massendemonstrationen, zum Teil verbunden mit gewaltsamen Ausschreitungen. Die Spannungen zwischen Nord- und Südjemen und die zunehmende Fragmentierung des Landes tragen zur Instabilität des Landes bei. In der Vergangenheit wurde für den Jemen insgesamt ein hohes Risiko gesehen, dass sich die Lage weiter verschlechtert (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF], Briefing Notes v. 22.3.2021). Auch während des gesamten Jahres 2022 kam es zu einer alarmierenden Zunahme von Angriffen auf humanitäre Einrichtungen und Gewalt gegen das Personal von Hilfsorganisationen durch die Konfliktparteien. Deshalb kam es in mehreren Gouvernements zu einer vorübergehenden Aussetzung der Hilfslieferungen (vgl. Amnesty International [AI], Yemen 2022, Stand 28. März 2023).
3. Zwischenzeitlich und aktuell (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) fehlt es allerdings ohne das Hinzutreten gefahrerhöhender individueller Umstände im Jemen und auch in der Region Hadramaut an einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder Unversehrtheit von Zivilpersonen infolge des Konflikts. Ein derart hoher Gefahrengrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre, was ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erfordert, liegt derzeit nicht vor.
Am 2. März 2022 trat ein von der UN vermittelter Waffenstillstand in Kraft, der nach Verlängerung am 2. Juni 2022 und am 2. August 2022, am 2. Oktober 2022 auslief. Zwar kam der innerstaatliche bewaffnete Konflikt im Jemen während der Waffenruhe nicht vollständig zum Erliegen. Dennoch führte der Waffenstillstand zu einer signifikanten Reduzierung der Intensität des Konflikts und der Zahl an Opfern (UNICEF Yemen Humanitarian Situation Report 2022). Die Zahl an Opfern des Konflikts während des Waffenstillstands war durchgehend auf dem niedrigsten Stand seit Januar 2015 und auch hinsichtlich der katastrophalen humanitären Situation brachte der Waffenstillstand Verbesserungen, insbesondere hinsichtlich des Zugangs zu humanitärer Hilfe und wirtschaftlichen Möglichkeiten für die Zivilbevölkerung. Luftangriffe oder größere Militäroperationen fanden nicht statt, auch wenn Frontgebiete weiter von niedrigschwelligen Zusammenstößen betroffen waren (UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs [OCHA], Humanitarian Update Yemen, 26.2.2023). Die Gesamtzahl der Todesfälle pro Jahr bei Schlachten, Explosionen, Fremdgewalt und Gewalt gegen Zivilisten, die in den Jahren 2015 – 2017 zwischen 17.000 und 15.000 und in den Jahren 2018 bis 2021 zwischen 18.000 und 34.000 lag, sank im Jahr 2022 auf rund 6.000. Die Zahl der Ziviltoten bei Schlachten, Explosionen, Fremdgewalt und Gewalt gegen Zivilisten lag in den Jahren 2015 bis 2019 zwischen rund 4.500 und rund 1.300, während die Anzahl ziviler Opfer 2022 von 1.095 im ersten Quartal auf je rund 480 im zweiten und dritten Quartal sank.
Folgen des Waffenstillstands waren nicht nur ein Rückgang der Kämpfe, der zivilen Opfer und der Vertriebenen, sondern auch die Ermöglichung von Treibstoffeinfuhren und kommerziellen Flügen (vgl. Commissioner General for Refugees and stateless Persons, COI-Fokus Jemen, Sicherheitslage, 28.11.2022; UNICEF, Yemen Humanitarian Situation Report, 31.12.2022) sowie die Erleichterung der Bewegungsfreiheit (vgl. UN OCHA, Humanitarian Update Yemen, 26.2.2023). Zwar stieg seit Ende des Waffenstillstands die Zahl der Binnenvertriebenen wieder (vgl. UN OCHA, Humanitarian Update Yemen, 26.2.2023). Am 9. April 2023 fanden jedoch Friedensverhandlungen zwischen den Huthis und Vertretern Saudi-Arabiens unter Vermittlung Omans in Sanaa statt, deren Ziele u.a. die Erneuerung des im Oktober ausgelaufenen Waffenstillstands, eine Aufhebung der saudischen Luft- und Seeblockade sowie das Ende der Besatzung von Taizz durch Huthi-Streitkräfte waren. Auch wenn diese Verhandlungen am 14. April 2023 ohne konkrete Ergebnisse endeten, wurden Berichten zufolge jedoch Fortschritte erzielt (BAMF, Briefing Notes, 17.4.2023). Am 17. Juni 2023 startete erstmals seit 2016 wieder ein Flug mit jemenitischen Pilgerinnen und Pilgern nach Saudi-Arabien, um die Hajj-Pilgerreise nach Mekka zu vollziehen (BAMF, Briefing Notes, 26.6.2023).
Selbst wenn diese Bemühungen und Fortschritte noch zu keiner unmittelbaren Beendigung der Konflikte und Lösungen führen und nicht ausreichen, um einen stabilen und dauerhaften Frieden zu sichern (vgl. Fluchtgrund, Verhandlungen im Jemen machen den 4,5 Millionen Geflüchteten Hoffnung, 7.6.2023), ist in der Gesamtschau gegenüber der Zeit vor dem Waffenstillstand im März 2022 eine deutlich verbesserte Lage im Jemen feststellbar. Nach wie vor besteht eine humanitäre Notlage und ist die medizinische Versorgung eingeschränkt sowie die Ernährungssicherheit im Jemen katastrophal (vgl. UN-News, Yemen health system ‚edging closer to collapse‘ warns WHO, 21.4.2023; BAMF, Briefing Notes, 5.6.2023 und 26.6.2023; World Food Programm, Yemen Food Security Update August 2023 vom 11.9.2023). Gleichwohl ist die Situation nicht (mehr) unmittelbar auf Kriegs- und Kampfhandlungen zurückzuführen. An der Front kommt es nur noch zu Scharmützeln (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung [FAZ], Ein Wirtschaftskrieg im Jemen, 27.6.2023) und es kam nach Auslaufen des Waffenstillstands zu keinen großflächigen Kämpfen mehr (BAMF, Briefing Notes, 27.3.2023). Auch wenn nach wie vor die Sorge besteht, die Gewalt könnte irgendwann wieder aufflammen, liegt derzeit vielmehr eine „wirtschaftliche Kriegsführung“, die als „politische Waffe“ eingesetzt wird, vor. Hauptprobleme sind die wirtschaftliche Misere, der fortschreitende Währungsverfall, die Preissprünge und Stromausfälle (vgl. FAZ v. 27.6.2023). Aber auch hier gibt es Fortschritte gegenüber den vergangenen Kriegsjahren. So konnte beispielsweise am 25. Februar 2023 erstmals seit 2016 ein Frachter mit kommerziellen Gütern den Hafen von Hodeiah anlaufen (BAMF, Briefing Notes, 27.2.2023). Zur Anzahl der Opfer und zur Schwere der Schädigungen lassen sich aus den Erkenntnismitteln zwar keine konkreten und systematischen Angaben entnehmen. Insgesamt zeigt sich allerdings eine deutlich rückläufige Zahl der zivilen Opfer. Auch unter Einbeziehung der schlechten medizinischen Versorgungslage und der sonstigen Umstände, die die wirtschaftliche, humanitäre und politische Situation im Jemen kennzeichnen, liegt das Risiko, im gesamten Jemen und in den o.g. genannten Gebieten, durch willkürliche Gewalt infolge eines bewaffneten Konflikts Schaden zu erleiden, zwischenzeitlich und aktuell (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) unter der Schwelle der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
Individuelle gefahrerhöhenden Umstände, die zu einer anderen Bewertung führen könnten, sind nicht ersichtlich. Solche sind weder geltend gemacht, noch ergeben sie sich aus dem Vortrag der Klägerinnen im behördlichen und gerichtlichen Verfahren.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat in seinem Bescheid vom 20. April 2023 ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zugunsten der Klägerinnen festgestellt und die weitergehenden Anträge im Übrigen abgelehnt. Auf die Klage der Klägerinnen hat das Verwaltungsgericht in seinem Urteil vom 20. Juni 2023 die Beklagte verpflichtet, den Klägerinnen subsidiären Schutz zuzuerkennen. Dementsprechend ist das Berufungsverfahren auf die Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes beschränkt und darüberhinausgehende Aspekte nicht Gegenstand dieses Verfahrens.