Ohne Suche zum Ziel. Wir lösen Ihr Rechtsproblem!Bewertung: - bereits 388.307 Anfragen

Schließung von Verkaufsstellen des Einzelhandels verstößt voraussichtlich gegen Art. 3 Abs. 1 GG

Firmen / Gewerbe | Lesezeit: ca. 56 Minuten

Die Differenzierung in § 2 Abs. 1 der Corona-Landesverordnung M-V vom 28.11.2020, zuletzt geändert durch Art. 1 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-LVO M-V und zur Änderung der 2. SARS-COV-2-Quarantäneverordnung vom 09.03.2021 verstößt voraussichtlich gegen Art. 3 Abs. 1 GG.

Der Entscheidung lag der nachfolgende Sachverhalt zugrunde:

Die Antragstellerinnen begehren die vorläufige Außervollzugsetzung des § 2 Abs. 1 Corona-Landesverordnung Mecklenburg-Vorpommern (Corona-LVO-M-V) vom 28. 11.2020 (GVOBl. S. 1158), diese Norm zuletzt geändert durch Art. 1 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-LVO M-V und zur Änderung der 2. SARS-CoV-2-Quarantäneverordnung vom 09.03.2021 (GVOBl. S. 211).

Die Antragstellerinnen haben am 22.02.2021 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO gegen die zum damaligen Zeitpunkt geltende Fassung des § 2 Abs. 1 Corona-LVO M-V gestellt. Mit Schriftsatz vom 12.03.2021 haben sie den Antrag auf § 2 Abs. 1 Corona-LVO M-V in der Fassung der Neunten Änderungsverordnung der Corona-LVO M-V vom 09.03.2021 umgestellt.

Die angegriffene Bestimmung des § 2 Abs. 1 Corona-LVO-M-V lautet:

„Sämtliche Verkaufsstellen des Einzelhandels sind für den allgemeinen Kundenverkehr geschlossen. Hiervon ausgenommen sind der Einzelhandel mit dem überwiegenden Sortiment für Lebensmittel, Wochenmärkte, Direktvermarkter von Lebensmitteln, Abhol- und Lieferdienste, Getränkemärkte, Reformhäuser, Babyfachmärkte, Apotheken, Sanitätshäuser, Drogerien, Optiker, Hörgeräteakustiker, Tankstellen, Zeitungsverkauf, Tierbedarfsmärkte, Futtermittelmärkte, Blumenläden, Großhandel, Gartenbaucenter sowie Buchhandlungen. Ein Verkauf mittels Abholung und Lieferdiensten bleibt auch für geschlossene Verkaufsstellen gestattet. Geschlossene Verkaufsstellen des Einzelhandels können für den Einkauf nach Terminvereinbarung geöffnet werden. Nicht von der Schließung betroffene Einzelhandelsbetreibe dürfen beim Verkauf nicht über ihr bestehendes Angebotssortiment hinausgehen. Für den Betrieb und den Besuch der geöffneten Verkaufsstellen, Einkauf nach Terminvereinbarung sowie der Abholung und Lieferdienste besteht die Pflicht, die Auflagen nach Anlage 1 einzuhalten“.

Sie begründen ihren Antrag im Wesentlichen wie folgt:

Sie betrieben als Schwesterunternehmen u.a. im Hoheitsgebiet des Antragsgegners Einzelhandel im Filialbetrieb mit einem Mischsortiment, wobei die privilegierten Sortimentsteile nicht überwögen. Sie verfügten über ein Hygienekonzept und könnten die Anforderungen an Verkaufsstellen des Einzelhandels erfüllen. Die dauerhaften Filialschließungen bedrohten sie in ihrer wirtschaftlichen Existenz, weil sie aufgrund ihres Gesamtumsatzes keinerlei Zugang zu staatlichen Entschädigungen hätten. Selbst bei einer Anspruchsberechtigung führe die Deckelung der Überbrückungshilfe III zu einer Entschädigung weit unter den laufenden Fixkosten.

Durch § 2 Abs. 1 Corona-LVO M-V werde ihnen die Öffnung ihrer Verkaufsstellen vollständig untersagt, was einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG darstelle, der nicht verhältnismäßig im engeren Sinne sei. Sie könnten der Regelung nicht ausweichen, weil es weder zumutbar möglich noch wirtschaftlich vertretbar sei, das Sortiment auf überwiegend „erlaubte“ Anteile umzustellen. Ihre Verkaufsstellen lösten keine sozialen Kontakte aus, die einem „Herunterfahren des öffentlichen Lebens“ entgegenstünden.

Es liege konkret für die Schließung des Einzelhandels keine dezidierte Begründung des Verordnungsgebers vor. Die Ziele einer Kontaktreduzierung und der Beschränkung der Mobilität der Bevölkerung würden durch eine Öffnung ihrer Filialen in keiner Weise konterkariert bzw. durch eine Schließung in keiner Weise gefördert. Zwischen dem (ohnehin geringen) Kundenaufkommen bei ihnen und der Fußgängerdichte in der Innenstadt bestehe kein Zusammenhang. Eine besondere Belastung oder Frequenzsteigerung im ÖPNV finde nicht statt.

Die Schließung des Einzelhandels mit Mischsortimenten sei auch nicht erforderlich. Eine Steuerung der Kundendichte könne durch eine Begrenzung der Personenzahl erfolgen, die sich auf einem bestimmten Anteil der Verkaufsfläche aufhalten dürfe.

Der Eingriff sei auch nicht angemessen. Einzelhandel mit Mischsortimenten sei für viele Bereiche des täglichen Lebens system- und grundversorgungrelevant. Weder gingen von den Verkaufsstellen besondere Sogwirkungen aus noch fänden intensive Begegnungen statt, durch die besondere infektiologische Gefahrenlagen geschaffen würden. Für die Bewertung der Lockdown-Maßnahmen als „notwendige Schutzmaßnahmen“ im Sinne des § 28 Abs. 1 IfSG fehle es an der erforderlichen Datenlage.

Es liege auch ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vor, das ebenfalls durch Art. 14 GG geschützt werde. Insoweit greife die Regelung in den Kern der Eigentumsgarantie ein. Sie würden in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht, weil sie gleichzeitig keinerlei Zugang zu staatlichen Kompensationsmaßnahmen erhielten. Es hätte zwingend einer Entschädigungsregelung bedurft, von der sie auch tatsächlich profitierten, weil es sich um eine ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung handele. Weder das IfSG noch die Corona-LVO M-V regelten dies.

Die angegriffene Regelung verstoße zudem gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Es fehle an einem plausiblen, sachlich vertretbaren Grund für die Regelung. Es sei nicht plausibel, weshalb ihre Verkaufsstellen für den Publikumsverkehr zu schließen seien, während gleichzeitig großflächige Verbrauchermärkte geöffnet seien und etwa Elektronikartikel und sonstige Konsumgüter jenseits der elementaren Grundversorgung anbieten könnten. Von derartigen Verkaufsstellen gingen größere Sogwirkungen und Anziehungskräfte aus, die das Ziel eines „Herunterfahrens des öffentlichen Lebens“ konterkarierten. Ihre Betriebe trügen in ländlichen Bereichen mit ihrem Mischsortiment ebenfalls zur Grundversorgung der Bevölkerung bei. Es sei nicht erklärlich, inwieweit Blumenläden zur Grundversorgung beitragen sollten, ihr Mischsortiment indes nicht. Die Öffnungsmöglichkeit vom zufälligen Umstand nicht näher spezifizierter prozentualer Sortimentsbestandteile abhängig zu machen, stelle keinen sachlichen Differenzierungsgrund dar.

Zudem gebe es angesichts der erneuten Erweiterung des Privilegierungskataloges in § 2 Abs. 1 Satz 2 Corona-LVO M-V keinen sachlichen Grund (mehr), andere Gewerbetreibende benachteiligend ungleich zu behandeln. Es liege eine willkürliche Ungleichbehandlung vor, weil nunmehr auch Buchläden für den Publikumsverkehr öffnen dürften. Diese lüden zum „Bummeln“ und Verweilen ein und führten dazu, dass zahlreiche Produkte durch eine Vielzahl von Kunden angefasst würden, ohne diese im Anschluss zu erwerben.

Unterstellte man die Erfolgsaussichten als offen, würde eine Abwägung der Vollzugsfolgen zum Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung führen. Ihnen drohten irreversible wirtschaftliche Einbußen, ohne dass ein erkennbarer Nutzen für die hochwertigen Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 GG ersichtlich sei. Neben den eingetretenen Verlusten seien bei ihnen im Januar 14.161 Mitarbeitende von Kurzarbeit betroffen. Wirtschaftliche Hilfen würden die Antragstellerinnen nicht erhalten.

Das legitime Ziel, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, rechtfertige die existenzbedrohenden Grundrechtseingriffe nicht (mehr). Auch die derzeitige Belegung von Intensivbetten bundesweit sowie im Land Mecklenburg-Vorpommern rechtfertige die Maßnahmen nicht. Die aktuelle Gesamtauslastung der Intensivbetten liege nur bei 72,1 %. In Mecklenburg-Vorpommern betrage der Anteil der COVID-19 Patienten an der Gesamtzahl der Intensivbetten stabil ca. 6 %. Das RKI habe das individuelle Infektionsrisiko und den Anteil am Gesamtinfektionsgeschehen für den Einzelhandel jeweils als „niedrig“ eingestuft. Der Antragsgegner habe nicht dargelegt, dass zwischen der Schließung des Einzelhandels und dem Rückgang von Inzidenzen ein Kausalzusammenhang bestehe.

Die Antragstellerinnen beantragen,

§ 2 Abs. 1 Corona-Landesverordnung Mecklenburg-Vorpommern (Corona-LVO M-V) vom 28. November 2020 (GVOBl. S. 1158), zuletzt geändert durch Verordnung vom 09. März 2021 (GVOBl. S. 211), bis zur Entscheidung über einen noch zu erhebenden Normenkontrollantrag der Antragstellerinnen außer Vollzug zu setzen,

hilfsweise

§ 2 Abs. 1 Corona-Landesverordnung Mecklenburg-Vorpommern (Corona-LVO M-V) vom 28. November 2020 (GVOBl. S. 1158), zuletzt geändert durch Verordnung vom 09. März 2021 (GVOBl. S. 211), bis zur Entscheidung über einen noch zu erhebenden Normenkontrollantrag der Antragstellerinnen außer Vollzug zu setzen, soweit die Norm den Antragstellerinnen die Öffnung ihrer Filialen zum Verkauf von nicht überwiegend erlaubtem Mischsortiment untersagt.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er verweist auf seine Ausführungen in dem Verfahren 2 KM 38/21 OVG und führt ergänzend aus, eine ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums liege nicht vor. Wegen der Verhältnismäßigkeit der Norm bedürfe es keiner Ausgleichsregelung.

Die angegriffene Regelung sei mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Die sachliche Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung (oder Gleichbehandlung) sei nicht allein anhand des infektionsschutzrechtlichen Gefahrengrades zu beurteilen. Aus § 28a Abs. 6 Satz 2 und 3 IfSG folge, dass auch alle sonstigen relevanten Belange zu berücksichtigen seien, etwa die Auswirkungen der Ge- und Verbote für die Unternehmen und Dritte sowie öffentliche Interessen an bestimmten unternehmerischen Tätigkeiten ohne Einschränkungen. Diese Belange seien geeignet, (Un-)Gleichbehandlungen zu rechtfertigen.

Die Differenzierung bezüglich der Kundenbegrenzung im Einzelhandel erfolge nicht zwischen privilegiertem und nicht privilegiertem Einzelhandel, sondern zwischen dem geöffneten Einzelhandel nach § 2 Abs. 1 Satz 2 und § 13a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Corona-LVO M-V und dem geschlossenen Einzelhandel mit Einkaufsmöglichkeiten nach Terminvereinbarung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 4 Corona-LVO M-V. Die unterschiedliche Behandlung sei aber durch die Anknüpfung an die Inzidenz in den verschiedenen Landkreisen gerechtfertigt. Durch die Möglichkeit, per Telefon oder auf elektronischem Wege einen Termin zum Einkaufen zu vereinbaren, bringe der Antragsgegner die beiderseitigen Interessen des Gesundheitsschutzes und des Einzelhandels in ein angemessenes Gleichgewicht. § 13a Abs. 1 Corona-LVO M-V verhindere zudem eine mögliche Sogwirkung durch das sofortige Öffnen aller Einzelhandelsstellen zu einem Zeitpunkt, in der die Infektionslage eine solche Öffnung noch nicht erlaube. Sollten alle Geschäfte sofort wieder öffnen können, sei ein enormer Andrang von potentiellen Kunden in den Einkaufspassagen zu erwarten.

Die weitere Öffnung von der Grundversorgung der Bevölkerung dienenden Bereichen sei nicht zu beanstanden. Diese dürften auch mit ihrem übrigen Sortiment öffnen, da die Grundversorgung nicht angemessen gesichert wäre, wenn alle Betriebe schließen müssten, die nicht ausschließlich, sondern nur überwiegend die privilegierten Sortimente führten. Die Antragstellerinnen nähmen nicht an der Grundversorgung der Bevölkerung teil.

Bei der Entscheidung, Blumen- und Buchläden nicht zu schließen, stehe dem Verordnungsgeber ein Einschätzungsspielraum zu, der gerichtlich nur begrenzt überprüfbar sei. Der Verordnungsgeber sei nicht verpflichtet, insoweit andere Regelungen zu erlassen. Die dort angebotenen Güter zählten zur Grundversorgung.

Der Antragsgegner stelle für „Lockerungen“ nicht strikt auf bestimmte Inzidenzzahlen ab. Es komme auch auf weitere Umstände an, wie etwa den Fortgang der Impfkampagne, nicht dagegen darauf, ob sich derzeit eine Übersterblichkeit zeige. Seit dem 04.08.2020 hätten sich die Erfassungsmethoden der Intensivbetten verändert. Nunmehr komme es maßgeblich darauf an, dass nur betreibbare Intensivbetten erfasst würden. Als betreibbar gelte ein Intensivbett, wenn jeweils ein vorgesehener Raum, funktionsfähige Geräte und Material pro Bettenplatz, Betten und personelle Besetzung mit pflegerischem und ärztlichem Fachpersonal vorhanden seien und eingesetzt werden könnten. Falle Pflegepersonal aus, würden dementsprechend Betten aus dem Betrieb genommen werden.

Hinsichtlich der Abwägung, nicht nur der epidemiologischen Erwägungen, sondern auch der sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit, stehe dem Verordnungsgeber ein Einschätzungsspielraum zu. Die Maßnahmen seien auch weiterhin angemessen, um die Kontakte so weit wie möglich zu begrenzen und ein exponentielles Wachstum der Infektionen zu verhindern. Eine generelle Aussage zum Infektionsrisiko im Einzelhandel könne nicht getroffen werden. Dies berücksichtige der Antragsgegner im Rahmen seines vorgegebenen Einschätzungsspielraums und in der Frage, ob die Maßnahmen kumulativ erforderlich seien. Auch sei zu berücksichtigen, dass es im Falle einer weitgehenderen Öffnung zu einem Ansturm auf die kommerziell geprägten Innenstadtbereiche kommen und sich hierdurch die Häufigkeit von Begegnungen und Kontakten sowie die Zahl der Infektionen signifikant erhöhen würde.

Hinsichtlich einer etwaigen Folgenabwägung werde auf den Beschuss des Senats vom 10.02.2021 (Az.: 2 KM 38/21 OVG) verwiesen. Die weiterhin hohen und nun wieder leicht ansteigenden Infektionszahlen belegten, dass die Maßnahmen weiterhin erforderlich seien, um das Leben und die Gesundheit einer Vielzahl von Menschen – nicht nur hohen Alters – zu schützen; dies auch in Anbetracht der Virusmutationen, die insbesondere in geschlossenen Räumen leichter übertragbar seien.

Der Hilfsantrag sei unzulässig, weil er auf eine Entscheidung über die Rechtsverhältnisse der Antragstellerinnen selbst gerichtet sei. Dies sei im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht statthaft.

Hierzu führte das Gericht aus:

Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.

Zum Weiterlesen bitte oder kostenlos und unverbindlich registrieren.

Sie haben keinen Zugang und wollen trotzdem weiterlesen?

Registrieren Sie sich jetzt - testen Sie uns kostenlos und unverbindlich

Wir lösen Ihr Rechtsproblem! AnwaltOnline - empfohlen von Computerwoche

Fragen kostet nichts: Schildern Sie uns Ihr Problem – wir erstellen ein individuelles Rechtsberatungsangebot für Sie.
  Anfrage ohne Risiko    vertraulich    schnell 

So bewerten Mandanten unsere Rechtsberatung

Durchschnitt (4,85 von 5,00 - 1.235 Bewertungen) - Bereits 388.307 Beratungsanfragen

Wir hatten Rechtsanwalt Dr. Voss um anwaltlichen Rat bei einer Vereinbarung, die wir vor vielen Jahren mit einem Nachbarn getroffen hatten, gebeten. ...

Verifizierter Mandant

War eine tolle und schnelle Abwicklung und hat mir sehr geholfen.

Verifizierter Mandant