Der Antrag, durch Erlass einer einstweiligen Anordnung § 1 Abs. 1 der Ordnungsbehördlichen Verordnung der Stadt Beckum über das Offenhalten von Verkaufsstellen im Stadtteil Beckum an den Sonntagen 6.9., 4.10. und 6.12.2020 vom 26.8.2020 bis zu einer Entscheidung über den unter dem Aktenzeichen 4 D 165/20.NE geführten Normenkontrollantrag außer Vollzug zu setzen, ist zulässig und begründet.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 47 Abs. 6 VwGO liegen vor. Nach dieser Bestimmung kann das Normenkontrollgericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist.
Das ist hier der Fall. Schon gemessen an dem für eine normspezifische einstweilige Anordnung allgemein anerkannten besonders strengen Maßstab erweist sich die angegriffene Regelung als offensichtlich rechtswidrig und nichtig. Ihre Umsetzung beeinträchtigt die Antragstellerin so konkret, dass eine einstweilige Anordnung deshalb dringend geboten ist.
Die umstrittene Verordnungsregelung ist von der Ermächtigungsgrundlage des § 6 Abs. 4 i. V. m. Abs. 1 LÖG NRW nicht gedeckt. Sie wird dem in dieser gesetzlichen Regelung konkretisierten verfassungsrechtlichen Schutzauftrag aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 139 WRV, der ein Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes gewährleistet und für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis statuiert, zweifelsfrei nicht gerecht.
Nach den den Beteiligten bekannten rechtlichen Maßstäben, die der Senat unter anderem in seinem Beschluss vom 28.8.2020 - Az:
4 B 1261/20.NE - nochmals zusammengestellt hat, trägt die angegriffene Regelung in der Ordnungsbehördlichen Verordnung der Antragsgegnerin dem verfassungsrechtlich geforderten Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen nicht ausreichend Rechnung. Sie stellt bereits nicht sicher, dass die für die Verkaufsstellenfreigabe jenseits bloß wirtschaftlicher Umsatzinteressen der Verkaufsstelleninhaber und alltäglicher Erwerbsinteressen potentieller Kunden angeführten Sachgründe für das Publikum während der freigegebenen Zeiten als gerechtfertigte Ausnahmen von der sonntäglichen Arbeitsruhe zu erkennen sind. Stattdessen prägen die beschlossenen und auf die in § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 4 LÖG NRW genannten Sachgründe sowie die Bekämpfung der Pandemie-Auswirkungen und eine angestrebte Entzerrung des Einkaufsverhaltens gestützten Sonntagsöffnungen wegen ihrer öffentlichen Wirkung den Charakter des jeweiligen Tages im Stadtgebiet der Antragsgegnerin in besonderer Weise. Sie dienen erklärtermaßen der Zielsetzung, an den festgesetzten Sonntagen Kaufkundschaft in die Stadt zu locken und hierdurch Ladeninhabern dort die Möglichkeit zu bieten, Umsatz zu generieren, nachdem in der gesamten Branche eine Rückkehr auf das Niveau vor der Corona-Krise nicht absehbar sei und einige festgesetzte verkaufsoffene Sonntage ausgefallen seien. Es geht also um Sonntagsöffnungen mit großer prägender Wirkung für den öffentlichen Charakter des Tages, die den gesamten Stadtteil Beckum erfassen und von denen lediglich der Einzelhandel für Lebensmittel ausgenommen ist. Von ihnen geht eine für jedermann wahrnehmbare Geschäftigkeit und Betriebsamkeit aus, die typischerweise den Werktagen zugeordnet wird. Sie laufen ohne einen Sachgrund mit überwiegender Prägekraft für den Charakter des Tages im Öffnungszeitraum jeweils auf eine weitgehende Gleichstellung mit den Werktagen und ihrer geschäftigen Betriebsamkeit hinaus, wodurch das verfassungsrechtlich stets zu wahrende Mindestniveau des Sonn- und Feiertagsschutzes jedenfalls unterschritten wird. Ungeachtet dessen ist auch nicht ersichtlich, dass Bereiche mit einem im Vergleich zu anderen Sonntagen ohnehin bestehenden besonderen Besucherinteresse unabhängig von der Ladenöffnung betroffen sind, so dass sich selbst bei einer belegbaren besonderen örtlichen Problemlage aus einer solchen das gegebenenfalls ergänzend erforderliche Gewicht für eine Durchbrechung des Sonn- und Feiertagsschutzes ergeben könnte.
Zur weiteren Begründung nimmt der Senat Bezug auf seine den Beteiligten bekannten Ausführungen im Beschluss vom 28.8.2020 - Az:
4 B 1261/20.NE -, die für die hier in Rede stehenden Ladenöffnungsfreigaben, die den gesamten Stadtteil Beckum betreffen, erst recht gelten. Entscheidungserhebliche Besonderheiten ergeben sich weder daraus, dass die Antragsgegnerin den Lebensmitteleinzelhandel ausgenommen hat und viele Einzelhändler in ihrem Gemeindegebiet wesentlich von den Auswirkungen der Corona-Pandemie betroffen sind. Entgegen dem Eindruck der Antragsgegnerin hat der Senat in dieser Entscheidung im Übrigen nicht zum Ausdruck gebracht, der Einzelhandel sei in weiten Teilen durch die Corona-Pandemie nicht wesentlich geschädigt worden. Dem Senat ist sehr wohl bewusst und hat dies auch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass einige Branchen erhebliche Einbußen erlitten haben. Angesichts der Einschätzung des zuständigen Ministeriums, die weggefallenden verkaufsoffenen Sonntage hätten für den Einzelhandel im ganzen Land im Vergleich zum Vorjahr einen Umsatzverlust in Höhe von 1,84 Mrd. Euro zur Folge gehabt, hat der Senat allerdings Anlass gesehen, auf die offizielle Einzelhandelsstatistik hinzuweisen. Danach hat der landesweite Gesamtumsatz des Einzelhandels in Verkaufsräumen, den die Antragsgegnerin besonders fördern möchte, ohne den Onlinehandel trotz weggefallener verkaufsoffener Sonntage und fortbestehender Hygieneauflagen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum im ganzen Land, wenn auch nur leicht, real sogar zugenommen.
Gerade angesichts von wirtschaftlichen Folgen, denen zwar nicht der ganze stationäre Einzelhandel, aber doch bestimmte Branchen landesweit im Wesentlichen in vergleichbarer Weise ausgesetzt sind, ist kein zureichender Sachgrund ersichtlich, der eine Ausnahme für den Großteil des Einzelhandels in Beckum rechtfertigt, während die Geschäfte in anderen Gemeinden, auch und gerade, soweit sie durch die Pandemie ähnlich betroffen sind, geschlossen bleiben müssen. Ungeachtet dessen, dass den festgesetzten Sonntagsöffnungen – wie ausgeführt – bereits die mit ihnen ausschließlich verbundene werktägliche Geschäftigkeit entgegensteht, bedeutet ihre Festsetzung eine Verletzung der gebotenen Wettbewerbsneutralität.
Zwar ist die Lage des lokalen Einzelhandels nach wochenlangen Geschäftsschließungen im ganzen Land von fortbestehenden Gesundheitsrisiken und Hygieneanforderungen an den stationären Handel gekennzeichnet und hat sich wegen der durchgehend im Wesentlichen gefahrlosen Verfügbarkeit von Online-Angeboten zumindest zwischenzeitlich verschärft dargestellt. Ein erkennbarer Sachgrund für nur einzelne Gemeinden erfassende Freigaberegelungen, die nicht nur der grundsätzlich gebotenen Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen Rechnung tragen, sondern auch unter Berücksichtigung der gebotenen Wettbewerbsneutralität gerechtfertigt werden können, liegt darin aber offensichtlich nicht. Wo keine hinreichend gewichtigen besonderen örtlichen Sachgründe angeführt werden können, die als solche erkennbar und andernorts nicht gegeben sind, lässt sich eine Ausnahme vom landesweit geltenden Gebot der Arbeitsruhe nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen, auch wenn dies während des derzeitigen vorübergehenden Verbots von Großveranstaltungen regelmäßig nicht gelingen wird.
Das selbstverständlich schützenswerte und von der Politik verfolgte Interesse an der Erhaltung des stationären Einzelhandels muss sich im Rahmen der für alle geltenden Gesetze vollziehen und darf nicht auf Kosten derer gehen, die den verfassungsrechtlich fest abgesteckten Rahmen einhalten. Seit über zehn Jahren ist durch das Bundesverfassungsgericht geklärt, dass Ausnahmen von der sonntäglichen Arbeitsruhe eines erkennbaren gewichtigen besonderen Sachgrundes bedürfen, der nicht darin liegen darf, dass der Handel auch an Sonn- und Feiertagen Umsatz erzielen möchte. Dabei hatte seinerzeit bereits das Bundesverfassungsgericht rein tatsächlich nur zu vernachlässigende beschäftigungspolitische Effekte von Sonntagsladenöffnungen festgestellt.