Eine nationale Regelung, nach der die
Reiseveranstalter vorübergehend von ihrer Verpflichtung befreit sind, im Fall des Rücktritts alle Zahlungen voll zu erstatten, ist nicht mit dem Unionsrecht vereinbar.
Dass er seinen Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nicht nachkommt, kann ein Mitgliedstaat, sofern kein Fall höherer Gewalt vorliegt, nicht mit der Befürchtung rechtfertigen, dass es zu internen Schwierigkeiten kommen könne.
Der Entscheidung lag der nachfolgende Sachverhalt zugrunde:
UFC-Que Choisir und CLCV, zwei Verbraucherschutzvereine, haben beim französischen Conseil d’État (Staatsrat) Klage auf Nichtigerklärung einer Rechtsverordnung über die finanziellen Bestimmungen für die Auflösung bestimmter Verträge über touristische Reisen und Urlaubsaufenthalte im Fall unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände oder höherer Gewalt erhoben (Rechtssache C-407/21).
Diese Rechtsverordnung war im Kontext der Covid-19-Pandemie erlassen worden, um es den Reiseveranstaltern zu ermöglichen, im Fall des Rücktritts („Auflösung“) vom
Pauschalreisevertrag wegen unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände einen Gutschein mit einer Gültigkeit von 18 Monaten auszustellen, nach deren Ablauf im Fall der Nichteinlösung erst ein Anspruch auf Erstattung der für die Pauschalreise getätigten Zahlungen bestand.
Damit wurde von der
Pauschalreiserichtlinie abgewichen, nach der alle für die
Pauschalreise getätigten Zahlungen innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags voll zu erstatten sind. Nach den Angaben der französischen Regierung sollte mit dieser Maßnahme die Lebensfähigkeit der Tourismusbranche erhalten werden. Es sollte verhindern werden, dass die Liquidität der Reiseveranstalter wegen der hohen Zahl pandemiebedingter Erstattungsforderungen derart beeinträchtigt wird, dass deren Existenz bedroht ist.
In seinem Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf höhere Gewalt berufen können, um die Pauschalreiseveranstalter – auch nur vorübergehend – von der in der Pauschalreiserichtlinie vorgesehenen Verpflichtung zur Erstattung zu befreien.
Unter „Erstattung“ ist eine Rückzahlung in Geld zu verstehen. Der Unionsgesetzgeber hat nicht gewollt, dass diese Verpflichtung durch eine Leistung in einer anderen Form wie z. B. das Angebot eines Gutscheins ersetzt werden kann. Mit der Pauschalreiserichtlinie wird das Ziel eines hohen und möglichst einheitlichen Verbraucherschutzniveaus verfolgt. Die Erstattung in Geld ist letztlich geeigneter, zum Schutz der Interessen des Verbrauchers beizutragen, was natürlich nicht ausschließt, dass der Reisende freiwillig eine Erstattung in Form eines Gutscheins akzeptiert.
Zu den Gründen für den Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag stellt der Gerichtshof fest, dass es sich bei einer weltweiten gesundheitlichen Notlage wie der Covid-19-Pandemie – einem Ereignis, das ganz offensichtlich außerhalb jeglicher Kontrolle war und dessen Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären – um „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ handeln kann, bei denen die Pauschalreiserichtlinie eine volle Erstattung vorsieht.
Der Gerichtshof weist das Vorbringen der französischen Regierung zurück, dass es sich bei der Covid-19-Pandemie nicht nur um „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“, sondern gleichzeitig auch um einen Fall von höherer Gewalt gehandelt habe, die Fälle umfasse, die über das hinausgingen, woran beim Erlass der Pauschalreiserichtlinie gedacht worden sei, und bei der eine von der Verpflichtung zur vollen Erstattung abweichende nationale Regelung erlassen werden könne. Der Gerichtshof stellt hierzu fest, dass der Begriff der unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände eine umfassende Durchführung des Begriffs der höheren Gewalt für die Zwecke der Pauschalreiserichtlinie darstellt. Diese sieht aber nicht die Möglichkeit vor, wegen höherer Gewalt von der Verpflichtung zur vollen Erstattung abzuweichen.
Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf höhere Gewalt berufen können, um den Erlass einer nationalen Regelung zu rechtfertigen, die nicht mit den Bestimmungen einer Richtlinie vereinbar ist. Im vorliegenden Fall liegt ohnehin kein Fall höherer Gewalt vor, da die entsprechenden Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Erstens läuft die in Rede stehende Regelung darauf hinaus, dass die Verpflichtung zur Erstattung generell vorläufig ausgesetzt wird, ohne dass die konkrete individuelle finanzielle Situation der betreffenden Reiseveranstalter berücksichtigt wird. Zweitens hätten die finanziellen Folgen, die die französische Regierung beklagt, z. B. durch bestimmte Beihilfemaßnahmen zugunsten der betroffenen Reiseveranstalter verhindert werden können. Drittens ist die in Rede stehende Regelung – sie befreit die Reiseveranstalter während eines Zeitraums, der bis zu 21 Monaten dauern kann, von ihrer Verpflichtung zur Erstattung – nicht so gestaltet, dass ihre Auswirkungen auf den Zeitraum beschränkt wären, der erforderlich ist, um den Schwierigkeiten zu begegnen, die wegen des Ereignisses, das einen Fall höherer Gewalt darstellen kann, auftreten.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Nichtigerklärung einer nationalen Regelung zu entscheiden hat, die es für unionsrechtswidrig hält, verpflichtet ist, die Regelung für nichtig zu erklären, und dass im vorliegenden Fall bei der entsprechenden Entscheidung eine Anpassung der Wirkungen wegen außergewöhnlicher Umstände (z. B. im Hinblick auf mit dem Umweltschutz oder der Stromversorgung eines Mitgliedstaats zusammenhängenden zwingenden Erwägungen) nicht in Betracht kommt. Die Nichtigerklärung der in Rede stehenden Rechtsverordnung kann auf die Branche der Pauschalreisen nämlich keine so weitreichenden schädlichen Auswirkungen haben, dass die Aufrechterhaltung der Wirkungen der Regelung erforderlich wäre, um die finanziellen Interessen der Wirtschaftsteilnehmer dieser Branche zu schützen.
In der Rechtssache C-540/21 (Kommission/Slowakei) hat sich der Gerichtshof im Wesentlichen von denselben Erwägungen leiten lassen. Er stellt fest, dass die Slowakische Republik dadurch, dass sie eine Gesetzesänderung vorgenommen hat, mit der dem Reisenden vorübergehend sein Recht, ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, und sein Anspruch auf volle Erstattung genommen wurde, gegen ihre Verpflichtung aus der Pauschalreiserichtlinie verstoßen hat.