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Verfassungsbeschwerde gegen die nordrhein-westfälische Coronaschutzverordnung

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Die Verfassungsbeschwerde wird als unzulässig zurückgewiesen.

Hierzu führte das Gericht aus:

I.

Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Vorschriften der nordrhein-westfälischen Coronaschutzverordnung und die dort geregelte Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung.
1. Die Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung – CoronaSchVO) vom 30. September 2020 (GV. NRW. S. 923), zuletzt geändert durch die Zweite Verordnung zur Änderung der Coronaschutzverordnung vom 16. Oktober 2020 (GV. NRW. S. 978a), regelt in § 2 Abs. 3 Satz 1 die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung in verschiedenen örtlichen und sozialen Bereichen. § 2 Abs. 3 Sätze 2 bis 5 CoronaSchVO treffen weitere Detailregelungen u. a. zu Ausnahmen der Pflicht zum Tragen einer solchen Mund-Nase-Bedeckung, so etwa für Kinder bis zum Schuleintritt und Personen, denen das Tragen aus medizinischen Gründen nicht möglich ist.

2. Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner am 20. August 2020 beim Verfassungsgerichtshof eingelegten Verfassungsbeschwerde im Wesentlichen gegen diese bereits in den früheren Fassungen der Coronaschutzverordnung enthaltene Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung. Nachdem er zunächst ausgeführt hatte, eine Antragstellung in der Hauptsache solle erst später erfolgen, und er zunächst nur beantragt hatte, „die aufgrund der Verfassungen des Bundes und des Landes gebotenen Anordnungen zu treffen“ und ihm „insbesondere (…) die Pflichten nach vorstehender Verordnung so weit wie möglich nachzulassen“, hat der Beschwerdeführer mit weiterem Schriftsatz vom 24. September 2020 auch in der Hauptsache den Antrag gestellt, ihn „von der Pflicht, Teile seines Kopfes zu verdecken, freizustellen“. Zur Begründung seiner Verfassungsbeschwerde und seines Eilrechtsschutzbegehrens trägt der Beschwerdeführer in tatsächlicher Hinsicht u. a. vor, eine aerosole Mensch-zu-Mensch-Übertragung des Coronavirus SARS-CoV-2 sei nicht gänzlich ausgeschlossen, aber weit davon entfernt, überwiegend wahrscheinlich zu sein. Die Wirksamkeit einer Maskenpflicht für Nichtinfizierte sei danach ebenfalls nicht wahrscheinlich. Der Beschwerdeführer verweist auf das Infektionsgeschehen in der Stadt A.. Dort sei der Ausbruch der Krankheit im März 2020 für jedermann deutlich ersichtlich gewesen. Nach März habe im öffentlichen Raum aber kein entsprechendes epidemisches Geschehen mehr beobachtet werden können. Er selbst sei hinsichtlich des Erregers wohl mittlerweile immun, diese Immunität halte ungefähr drei Jahre an. Aus Sicht des Beschwerdeführers seien seit Einführung der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung ein zunehmend unangenehmer werdendes Klima im Einzelhandel und im öffentlichen Nahverkehr sowie Streitigkeiten zu beobachten. Auch seien vielen Mitarbeitern der fraglichen Unternehmen die Ausnahmetatbestände nicht bekannt. Es entstehe im Übrigen der Eindruck der Gewaltbereitschaft von Gruppen aus Trägern chirurgischer Masken.

Der Beschwerdeführer sieht sich als hauptberuflich selbstständiger Rechtsanwalt durch die Einschränkungen der Coronaschutzverordnung in seinen Rechten verletzt. Er könne weder Visitenkarten verteilen noch neue Geschäftskontakte anbahnen, der Marktzugang sei ihm verschlossen. Auch vom öffentlichen Nahverkehr oder dem vormals umfangreichen Kulturangebot des Landes sei er durch die Einschränkungen ausgeschlossen. Eingeschränkt seien auch seine Wissenschafts- und Forschungsfreiheit, außerdem sein Recht auf Leben. Der „Zugang zu Essen und Trinken“ hänge „von der Bedingung der Verdeckung von Mund und Nase ab“. Ferner sei ihm die Familiengründung unmöglich, denn eine „Kontaktaufnahme zum weiblichen Geschlecht“ sei ihm über Monate hinweg „effektiv gänzlich versperrt“. Die Maskenpflicht schränke seine Würde und Person ein. Insgesamt seien die Grundrechtseinschränkungen mittlerweile unverhältnismäßig geworden. An Individuen gerichtete Regelungen seien nicht mehr zu rechtfertigen. Der Überlastung des Gesundheitssystems könne mit milderen Mitteln, wie z. B. durch Auflagen gegenüber Gewerbetreibenden begegnet werden, ohne dass dies den Lebens- und Gesundheitsschutz gefährde. Die Wirkungslosigkeit der Maskenpflicht für Nichtinfizierte sei statistisch erwiesen, die Neuerkrankungszahlen seien weiter gesunken. Die Coronaschutzverordnung sei schließlich nicht ordnungsgemäß allgemeinzugänglich.

Mit Schriftsatz vom 26. Oktober 2020 hat der Beschwerdeführer erklärt, dass er seinen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes als erledigt betrachte.

Für den Fall der auch teilweisen Unzulässigkeit seines Begehrens bittet der Beschwerdeführer um unverzügliche Weiterleitung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen als das zuständige Normenkontrollgericht.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

a) Der Beschwerdeführer hat den Rechtsweg entgegen § 54 Satz 1 VerfGHG nicht erschöpft. Nach dieser Vorschrift kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden, wenn gegen die behauptete Verletzung der Rechtsweg zulässig ist. Ein solcher Rechtsweg steht dem Beschwerdeführer mit einem unmittelbar gegen die Coronaschutzverordnung gerichteten Normenkontrollantrag zum Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen offen. Verordnungen des Landes können gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 109a Justizgesetz NRW im Verfahren der Normenkontrolle durch das Oberverwaltungsgericht überprüft werden. Ein solches verwaltungsgerichtliches Normenkontrollverfahren in der Hauptsache hat der Beschwerdeführer bisher nicht durchlaufen.

Eine Entscheidung vor Erschöpfung dieses Rechtswegs ist nicht angezeigt. Diese Möglichkeit besteht gemäß § 54 Satz 2 VerfGHG ausnahmsweise, wenn die Verfassungsbeschwerde von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde. Zwar hat die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Coronaschutzverordnung allgemeine Bedeutung. Die Abwägung im Rahmen des durch § 54 Satz 2 VerfGHG eröffneten Ermessens fällt aber dennoch gegen eine sofortige Sachentscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus. Eine derartige Vorabentscheidung kommt in der Regel nämlich dann nicht in Betracht, wenn entscheidungserhebliche Tatsachen noch nicht aufgeklärt sind oder die einfachrechtliche Lage nicht hinreichend geklärt ist. Es obliegt vorrangig den Fachgerichten, einfachrechtliche Vorschriften auszulegen und die zur Anwendung der Vorschriften erforderlichen Ermittlungen sowie die Würdigung des Sachverhaltes vorzunehmen. Die grundsätzliche Notwendigkeit der Rechtswegerschöpfung soll dabei unter anderem gewährleisten, dass dem Verfassungsgerichtshof in der Regel nicht nur die abstrakte Rechtsfrage und der Sachvortrag des Beschwerdeführers unterbreitet werden, sondern dass auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für diese Materie zuständiges Gericht vorliegt. Der Vorklärung durch die Fachgerichte kommt insbesondere dort Bedeutung zu, wo die Beurteilung der mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen die Prüfung tatsächlicher oder einfachrechtlicher Fragen voraussetzt, für die das Verfahren vor den Fachgerichten besser geeignet ist.

Dies ist hier der Fall. Der Beschwerdeführer stützt seine Rügen insbesondere auf Erwägungen zur – wie er annimmt – mittlerweile eingetretenen Unverhältnismäßigkeit der mit der Coronaschutzverordnung einhergehenden Beschränkung seiner Handlungsfreiheit, seines Persönlichkeitsrechts, seiner Kunst- und Wissenschaftsfreiheit und seiner Berufsfreiheit. Die von ihm vorgebrachten Einwände können sachgerecht durch das Oberverwaltungsgericht geklärt werden. Für die verfassungsrechtliche Beurteilung insbesondere der angegriffenen Bestimmung zur Pflicht des Tragens einer Mund-Nase-Bedeckung sind die tatsächliche Entwicklung und die Rahmenbedingungen der aktuellen Coronavirus-Pandemie sowie fachwissenschaftliche – virologische, epidemiologische, medizinische und psychologische – Bewertungen und Risikoeinschätzungen von wesentlicher Bedeutung. Daher besteht in tatsächlicher Hinsicht Bedarf an einer fachgerichtlichen Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen vor einer Anrufung des Verfassungsgerichtshofs. Zudem kann die angegriffene Vorschrift der Verordnung durch das Oberverwaltungsgericht im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens umfassend auch am Maßstab des Bundesrechts, insbesondere auf ihre Vereinbarkeit mit ihrer bundesgesetzlichen Rechtsgrundlage, überprüft werden.

Angesichts der oben dargestellten Möglichkeiten des fachgerichtlichen Hauptsachenrechtsschutzes entsteht dem Beschwerdeführer durch die Verweisung auf den Rechtsweg auch kein schwerer und unabwendbarer Nachteil im Sinne des § 54 Satz 2 VerfGHG, zumal ihm die Möglichkeit zeitnahen Eilrechtsschutzes offen steht.

b) Der Verweis auf die Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs eines Normenkontrollverfahrens in der Hauptsache ist für den Beschwerdeführer auch nicht deshalb unzumutbar, weil diese von vornherein aussichtslos wäre.

Von vornherein aussichtslos ist ein Rechtsbehelf jedenfalls dann, wenn er offensichtlich unstatthaft oder unzulässig ist. Die offensichtliche Aussichtslosigkeit kann sich aber etwa auch daraus ergeben, dass im Hinblick auf eine gefestigte jüngere und einheitliche höchstrichterliche Rechtsprechung im konkreten Einzelfall keine von dieser Rechtsprechung abweichende Entscheidung in der Sache zu erwarten ist oder wenn der Beschwerdeführer schon einmal erfolglos den Rechtsweg beschritten hat und wegen eindeutiger gesetzlicher Regelung kein anderes Ergebnis zu erwarten ist. Mit anderen Worten, aussichtslos ist ein Rechtsbehelf, wenn ein Verfahren vor den Fachgerichten „bloße Formsache“ gewesen wäre.

Eine solche gefestigte jüngere und einheitliche höchstrichterliche Rechtsprechung liegt nicht vor. Zwar hat das Oberverwaltungsgericht in mehreren Eilverfahren die Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung für voraussichtlich rechtmäßig erachtet. Aus diesen nach summarischer Prüfung ergangenen Entscheidungen folgt aber nicht, dass ein Normenkontrollverfahren in der Hauptsache offensichtlich aussichtslos wäre. Doch selbst wenn der einstweilige Rechtsschutz nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht nur summarisch, sondern nach eingehender Prüfung der Sach- und Rechtslage abgelehnt wurde, ist es möglich, dass das Oberverwaltungsgericht in einem späteren Hauptsacheverfahren zu einem abweichenden Ergebnis gelangt. Dies liegt schon deshalb nicht in einem bloß theoretischen Bereich, weil die medizinischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über das Virus, seine Risiken und Übertragungswege stetig fortschreiten und jedenfalls noch keinen „gesicherten Stand“ abbilden. Das Oberverwaltungsgericht selbst stellt ausdrücklich fest, dass „der wissenschaftliche Diskurs über die Eignung sog. Behelfsmasken als Mittel zur Verringerung der Infektionszahlen bisher nicht abgeschlossen sein“ dürfte. Außerdem ist nicht ausgeschlossen, dass es zu einer Überprüfung einer Hauptsacheentscheidung in einem Revisionsverfahren kommt.

Die Durchführung eines Normenkontrollverfahrens vor dem Oberverwaltungsgericht ist auch nicht deshalb von vornherein aussichtslos, weil die angegriffenen Vorschriften der Coronaschutzverordnung nur von kurzer Geltungsdauer sind und möglicherweise während eines Normenkontrollverfahrens außer Kraft treten. Denn dass eine auf kurzfristige Geltung angelegte Norm wegen Zeitablaufs außer Kraft getreten ist, stellt die Zulässigkeit eines Normenkontrollantrags jedenfalls nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht in Frage. Auch dann kann ein schutzwürdiges Interesse an einer Sachentscheidung bestehen. Hinzu kommt, dass die Coronaschutzverordnung jedenfalls in einzelnen Regelungen die grundrechtliche Freiheit schwerwiegend beeinträchtigt. Auch dies spricht für eine nachträgliche Klärung ihrer Vereinbarkeit mit Grundrechten im Verfahren der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle.

Der Prüfungsumfang eines verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens spricht ebenfalls gegen die Annahme, der Verweis auf dessen erfolglose Durchführung sei unzumutbar. Prüfungsmaßstab für die Beurteilung der Gültigkeit einer angegriffenen Rechtsvorschrift für das Oberverwaltungsgericht ist jegliches höherrangige Recht jeder Stufe, also Bundesverfassungsrecht, einfaches Bundesrecht, Landesverfassungsrecht und Landesgesetze. Eine Einschränkung nach § 47 Abs. 3 VwGO besteht in Nordrhein-Westfalen nicht. Das Normenkontrollgericht hat für die zur Prüfung gestellte untergesetzliche Vorschrift die Verwerfungskompetenz. Hinsichtlich der Ermächtigungsgrundlage der Coronaschutzverordnung geht der Prüfungsumfang weiter als für den Verfassungsgerichtshof. Nach Art. 75 Nr. 5a LV und § 53 Abs. 1 VerfGHG ist die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof nur gegen Akte der Landessstaatsgewalt eröffnet. Beim Infektionsschutzgesetz handelt es sich aber um ein Bundesgesetz und damit um einen Akt der öffentlichen Gewalt des Bundes. Offen kann dabei bleiben, inwieweit der Verfassungsgerichtshof etwa auch Bundesrecht auslegen muss, um einen Widerspruch bei der Auslegung der Landesverfassung zum kompetenzgemäß erlassenen Bundesrecht zu vermeiden.

Schließlich werfen die bislang gegen die Coronaschutzverordnung eingelegten Verfassungsbeschwerden nicht ausschließlich spezifisch verfassungsrechtliche Fragen auf, die der Verfassungsgerichtshof ohne vorherige fachgerichtliche Aufbereitung der tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundlagen beantworten könnte. Es geht – wie ausgeführt – um die tatsächlichen Rahmenbedingungen der Coronavirus-Pandemie sowie fachwissenschaftliche – virologische, epidemiologische, medizinische und psychologische – Bewertungen und Risikoeinschätzungen von wesentlicher Bedeutung, für deren Aufbereitung ein verwaltungsgerichtliches Hauptsacheverfahren besonders geeignet ist.

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der auf eine vorläufige Regelung bis zur Entscheidung in der Hauptsache gerichtet ist, erledigt sich mit dem Beschluss über die Verfassungsbeschwerde.

3. Die vom Beschwerdeführer „im Falle der (teilweisen) Unzulässigkeit“ erbetene „unverzügliche Weiterleitung an das Oberverwaltungsgericht“ kommt nicht in Betracht. Eine solche ist nach dem Verfassungsgerichtshofgesetz nicht vorgesehen. Es steht dem Beschwerdeführer frei, selbst den Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei dem dafür zuständigen Gericht zu stellen.


VerfGH Nordrhein-Westfalen, 27.10.2020 - Az: VerfGH 127/20

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