Die Weigerung eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig erlangte Änderung des Vornamens und Geschlechts anzuerkennen, verstößt gegen die Rechte der Unionsbürger.
Die Art. 20 und 21 AEUV, gelesen im Licht der Art. 7 und 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die es nicht erlaubt, die Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat während der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt rechtmäßig erworben wurde, anzuerkennen und in die Geburtsurkunde des Betroffenen einzutragen, mit der Folge, dass er gezwungen ist, im erstgenannten Mitgliedstaat ein neues Verfahren gerichtlicher Art zur Änderung der Geschlechtsidentität anzustrengen, das diese in dem anderen Mitgliedstaat bereits rechtmäßig erworbene Änderung außer Acht lässt.
Insoweit ist es unerheblich, dass der Antrag auf Anerkennung und Eintragung der Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität in diesem ersten Mitgliedstaat zu einem Zeitpunkt gestellt wurde, zu dem der Austritt des anderen Mitgliedstaats aus der Europäischen Union bereits wirksam geworden war.
Der Entscheidung lag der nachfolgende Sachverhalt zugrunde:
Ein rumänischer Staatsbürger wurde bei seiner Geburt in Rumänien als weibliche Person registriert.
Nach seinem Umzug in das Vereinigte Königreich im Jahr 2008 erwarb er – unter Beibehaltung seiner rumänischen Staatsangehörigkeit – die britische Staatsangehörigkeit. In diesem Land, in dem er seinen Wohnsitz hat, änderte er im Jahr 2017 seinen Vornamen und seine Anrede von weiblich zu männlich und wurde im Jahr 2020 seine männliche Geschlechtsidentität rechtlich anerkannt.
Im Mai 2021 beantragte dieser Bürger bei den rumänischen Verwaltungsbehörden auf der Grundlage von zwei im Vereinigten Königreich erhaltenen Dokumenten, mit denen diese Änderungen bescheinigt werden, die Eintragung von seiner männlichen Geschlechtszugehörigkeit entsprechenden Vermerken über die Änderung seines Vornamens, seines Geschlechts und seiner Personenidentifikationsnummer in seine Geburtsurkunde. Außerdem beantragte er die Ausstellung einer neuen Geburtsurkunde mit diesen neuen Angaben.
Die rumänischen Behörden lehnten diese Anträge jedoch ab und forderten ihn auf, ein neues Verfahren zur Änderung der Geschlechtsidentität vor den rumänischen Gerichten anzustrengen. Unter Berufung auf sein Recht, sich im Hoheitsgebiet der Union frei zu bewegen und aufzuhalten, beantragte der betroffene Bürger bei einem Gericht in Bukarest, die Angleichung seiner Geburtsurkunde an seinen neuen Vornamen und seine im Vereinigten Königreich bestandskräftig anerkannte Geschlechtsidentität anzuordnen.
Dieses Gericht fragt den Gerichtshof, ob die nationale Regelung, auf der die ablehnende Entscheidung der rumänischen Behörden beruht, mit dem Unionsrecht vereinbar sei und ob der Brexit2 Auswirkungen auf den Rechtsstreit habe.
Der Gerichtshof antwortet, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats, die es ablehnt, die Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat, im vorliegenden Fall dem Vereinigten Königreich, rechtmäßig erlangt wurde, anzuerkennen und in die Geburtsurkunde des Betroffenen einzutragen, gegen das Unionsrecht verstößt. Dies gilt auch, wenn der Antrag auf Anerkennung dieser Änderung nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union gestellt wurde. Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass die Änderung des Vornamens und der Geschlechtsidentität, die dem Rechtsstreit zugrunde liegt, vor dem Brexit bzw. während der auf diesen folgenden Übergangszeit erlangt wurde. Diese Änderung hat daher als in einem Mitgliedstaat der Union erlangt zu gelten. Dass das Vereinigte Königreich kein Mitgliedstaat der Union mehr ist, wirkt sich nicht auf die Anwendung des Unionsrechts in diesem Fall aus.
Der Gerichtshof erläutert sodann, dass die Weigerung eines Mitgliedstaats, eine in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig erlangte Änderung der Geschlechtsidentität anzuerkennen, die Ausübung des Rechts, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, behindert. Wie der Vorname stellt nämlich das Geschlecht ein grundlegendes Element der persönlichen Identität dar. Die Divergenz zwischen den Identitäten, die sich aus einer solchen Weigerung der Anerkennung ergeben, führt zu Schwierigkeiten beim Nachweis der eigenen Identität im alltäglichen Leben sowie zu schwerwiegenden Nachteilen beruflicher, administrativer und privater Art.
Schließlich entscheidet der Gerichtshof, dass diese Weigerung der Anerkennung und der für den Betroffenen bestehende Zwang, ein neues Verfahren zur Änderung der Geschlechtsidentität im Herkunftsmitgliedstaat anzustrengen, das ihn der Gefahr aussetzt, dass dieses Verfahren zu einem anderen Ergebnis führt als dem, zu dem die Behörden des Mitgliedstaats gelangt sind, die diese Änderung von Vornamen und Geschlechtsidentität rechtmäßig gewährt haben, nicht gerechtfertigt sind. In diesem Zusammenhang weist er auch darauf hin, dass die Staaten nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verpflichtet sind, ein klares und vorhersehbares Verfahren für die rechtliche Anerkennung der Geschlechtsidentität vorzusehen, das die Änderung des Geschlechts ermöglicht.