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Subsidiärer Schutz: Gaza

Ausländerrecht | Lesezeit: ca. 9 Minuten

Aktuell ist davon auszugehen, dass für jede in Gaza befindliche Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens und ihrer Unversehrtheit aufgrund des dort herrschenden bewaffneten Konflikts besteht.

Hierzu führte das Gericht aus:

Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei unter anderem eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

Der Begriff des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bezieht sich entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auf eine Situation, in der die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder in der zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen. Ein solcher Konflikt ist im Herkunftsgebiet des Klägers Gaza derzeit gegeben.

Es ist allgemeinkundig, dass am 7.10.2023 Hamas-Kämpfer nach Israel eingedrungen sind und dort mehrere Orte attackiert, eine große Zahl von Menschen getötet und weitere Personen als Geiseln genommen haben und dass seitdem Angriffe durch das israelische Militär auf eine Vielzahl von Orten in Gaza stattfinden. Nach den Briefing Notes des Bundesamtes vom 6.11.2023 ist im Zuge dieses Konflikts die Anzahl der palästinensischen Todesopfer nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums bis zu diesem Zeitpunkt bereits auf 9.700 Personen gestiegen, darunter mehr als 4.000 Kinder und Jugendliche. Die WHO zählt von 7. bis 30.10.2023 mindestens 9770 Todesopfer, davon 41% Kinder. Die Opfer seien zu 45% weiblich und zu 55% männlich. UNOCHA weist mit Stand 10.11.2023 11.078 Tote und 27.490 Verletzte im Gebiet des Gazastreifens aus. Auch wenn die jeweils genannten Zahlen wohl alle als Quelle eine Konfliktpartei (Gesundheitsministerium der Hamas) haben, halten die Vereinten Nationen und andere internationale Institutionen und Experten die Daten grundsätzlich für weitgehend korrekt. Auch die entscheidende Einzelrichterin legt diese Zahlen vorliegend zugrunde, wobei berücksichtigt wird, dass die während eines laufenden Konfliktes bekanntgegebenen Opferzahlen immer nur Annäherungswerte sein können. Obwohl keine Angaben dazu gemacht werden, wie hoch der Anteil der zivilen Todesopfer unter den Gesamtzahlen liegt, spricht die enorme Zahl der Getöteten und insbesondere der getöteten Frauen und Minderjährigen, innerhalb nur etwa eines Monats in einem Gebiet, das von etwa 2,1 Millionen Menschen bewohnt ist, stark für eine ernsthafte Bedrohung jedes in diesem Gebiet befindlichen Menschen. Innerhalb eines Jahres würden bei gleichbleibenden Opferzahlen über 5% der Bevölkerung Gazas sterben (wenn auch hierbei der Anteil der zivilen Opfer nicht klar ist). Bei der Prüfung ob eine individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts vorliegt, kann allerdings nicht allein darauf abgestellt werden, dass das Verhältnis der Opferzahl zur Gesamtzahl der Bevölkerung eine bestimmte Schwelle überschreitet. Zur Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ vorliegt und subsidiärer Schutz zu gewähren ist, bedarf es vielmehr einer umfassenden Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation im Herkunftsland der schutzsuchenden Person kennzeichnen. In Gaza leben aktuell schätzungsweise 1,7 Millionen Binnenvertriebene. Davon befinden sich 884.000 Personen in den 154 Einrichtungen der UNWRA, wobei selbst in diesen Einrichtungen seit dem 7.10.2023 mindestens 176 Schutzsuchende getötet und 778 verletzt wurden. Die israelischen Streitkräfte weiteten ihre Bodeneinsätze ab 28.10.23 im nördlichen Gazastreifen aus und führen anhaltend Luftangriffe auf Ziele mit mutmaßlicher Verbindung zur Hamas durch. Die WHO weist auf ihrer Webseite darauf hin, dass ein Mangel an medizinischen Hilfsgütern, Essen, Wasser und Treibstoff das ohnehin unterversorgte Gesundheitssystem erschöpft habe. 39% der Krankenhäuser in Gaza seien nicht funktionsfähig, der Wasserverbrauch sei im Vergleich zum Zeitraum vor den Kampfhandlungen um 56-96% gesunken. Die Zerstörung beeinträchtige die Infrastruktur im Gazastreifen erheblich und behindere den Zugang von Krankenwagen zu den Verletzten. Die Katastrophe im Bereich der öffentlichen Gesundheit entwickle sich rasant mit einer hohen Zahl gewaltvoller Tode und Verletzungen, Massenvertreibung, Überfüllung, erheblicher Störung und Dysfunktion des Gesundheitssystems und Schäden an Wasser- und Hygieneinfrastruktur. 70% der medizinischen Erstversorgungseinheiten seien nicht funktionsfähig. Es gebe kritischen Mangel an wesentlichen Medikamenten und Medizinprodukten. Seit dem 7.10.2023 habe es in Gaza 108 Angriffe auf die Gesundheitsversorgung gegeben, bei denen 512 Menschen getötet worden seien. 22 Krankenhäuser und 33 Krankenwägen seien beschädigt worden. Seit dem 11. Oktober bestehe im Gaza-Streifen ein Blackout, nachdem die israelischen Behörden die Stromversorgung unterbrochen hätten und die Treibstoffreserven für Gazas einziges Stromkraftwerk aufgebraucht seien.

Diese Umstände, die von verschiedenen internationalen Organisationen und Medien geschildert werden, decken sich auch mit den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung, wo dieser die Lage seiner in Gaza lebenden Verwandten schilderte, die zum Teil verletzt oder getötet wurden, ihre Häuser verlassen mussten und die nicht einmal mehr eine Unterstützung durch die UNWRA erhalten konnten, die über eine reine Unterkunft hinausging.

Aufgrund der katastrophalen humanitären Umstände, der mangelnden medizinischen Versorgung und der immer noch fortgesetzten Boden- und Luftangriffe auf die Hamas, die aufgrund der besonderen Umstände dieses Konflikts in erheblichem Maß auch die Zivilbevölkerung treffen, ist aktuell davon auszugehen, dass für jede in Gaza befindliche Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und ihrer Unversehrtheit besteht.

Es kann daher dahinstehen, ob dem Kläger bei einer Rückkehr auch hinreichend individuell eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht, weil der militärischen Arm der Hamas-Regierung verschiedenen Medienberichten zufolge zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen oder Wohnhäuser als Schutzschilde missbraucht. Hierin könnte eine „Entmenschlichung“ der Zivilbevölkerung Gazas gesehen werden, die als lebendiges Schutzschild missbraucht wird.

Innerhalb des Herkunftsgebietes des Klägers (Palästinensische Autonomiegebiete/Gaza) besteht auch keine interne Fluchtalternative. Auch wenn es im südlichen Teil des Gazastreifens sicherer für die Bevölkerung ist als im Norden, besteht die oben geschilderte Lage auch in diesem Gebiet.


VG Bayreuth, 15.11.2023 - Az: B 3 K 22.30859

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