Der Gerichtshof der Europäischen Union hatte über die Vereinbarkeit der Richtlinie (EU) 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne mit den Zuständigkeitsgrenzen der Europäischen Union zu entscheiden. Maßgeblich war die Frage, ob der Unionsgesetzgeber mit der Richtlinie unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts oder in das Koalitionsrecht der Mitgliedstaaten eingegriffen hat und damit gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV verstoßen wurde.
Die unionsrechtliche Zuständigkeit im Bereich der Sozialpolitik ist auf die in den Verträgen ausdrücklich übertragenen Befugnisse beschränkt. Nach Art. 153 Abs. 5 AEUV gilt die Regelungskompetenz ausdrücklich nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht. Der Gerichtshof stellte klar, dass die Abgrenzung dieser Kompetenzen auf objektiven Kriterien – insbesondere Ziel und Inhalt der Maßnahme – beruht.
Ziel der Richtlinie war die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union, insbesondere durch die Förderung der Angemessenheit gesetzlicher Mindestlöhne und durch eine stärkere tarifvertragliche Abdeckung. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem zur Schaffung von Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung gesetzlicher Mindestlöhne sowie zur Förderung von Tarifverhandlungen, ohne ein bestimmtes Lohnniveau vorzugeben.
Im Hinblick auf die Abgrenzung der Zuständigkeiten bestätigte der Gerichtshof, dass der Ausschluss der Union in Bezug auf das Arbeitsentgelt nur dann eingreift, wenn eine Maßnahme unmittelbar in die Festsetzung der Löhne eingreift. Der unionsrechtliche Rahmen darf demnach Auswirkungen auf das Lohnniveau haben, solange er keine verbindlichen Vorgaben über Lohnbestandteile oder -höhen enthält.
Hinsichtlich Art. 4 der Richtlinie, der die Förderung von Tarifverhandlungen betrifft, verneinte der Gerichtshof einen unmittelbaren Eingriff in die Festsetzung des Arbeitsentgelts. Die Mitgliedstaaten behalten die Wahl zwischen gesetzlichen und tarifvertraglichen Systemen. Auch der in Art. 4 Abs. 2 vorgesehene Aktionsplan zur Erhöhung der
tarifvertraglichen Abdeckung greift nicht unmittelbar in die Lohnfestsetzung ein, da er lediglich Handlungspflichten, nicht aber Erfolgspflichten enthält. Die Autonomie der Sozialpartner bleibt gewahrt.
Für Art. 5 der Richtlinie kam der Gerichtshof zu einer differenzierten Beurteilung. Zwar wahrt die Vorschrift grundsätzlich die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und verpflichtet lediglich zur Einrichtung verfahrensrechtlicher Verfahren zur Festsetzung und Aktualisierung gesetzlicher Mindestlöhne. Soweit Art. 5 Abs. 2 jedoch verbindlich vorschreibt, dass die Verfahren zwingend bestimmte Kriterien – etwa Kaufkraft, allgemeines Lohnniveau, Wachstumsrate der Löhne und Produktivitätsentwicklung – umfassen müssen, liegt hierin ein unmittelbarer Eingriff in die Festsetzung des Arbeitsentgelts. Gleiches gilt für den Satzteil in Art. 5 Abs. 3, der eine Senkung gesetzlicher Mindestlöhne durch automatische Indexierungsmechanismen untersagt. Diese Regelungen führen zu einer materiellen Harmonisierung der Lohnbestandteile und überschreiten damit die unionsrechtliche Kompetenzgrenze.
Art. 6 der Richtlinie, der Abweichungen und Abzüge von gesetzlichen Mindestlöhnen nur unter Wahrung der Grundsätze der Nichtdiskriminierung und Verhältnismäßigkeit zulässt, stellt hingegen keinen unmittelbaren Eingriff dar, da die Mitgliedstaaten weiterhin frei entscheiden können, ob sie unterschiedliche Mindestlohnsätze oder Abzüge vorsehen.
Der Gerichtshof erklärte daher Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie sowie den Satzteil „einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte“ in Art. 5 Abs. 1 Satz 5 und den Satzteil „sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“ in Art. 5 Abs. 3 für nichtig. Im Übrigen blieb die Richtlinie gültig.
Bezüglich des Koalitionsrechts stellte der Gerichtshof klar, dass der Begriff in Art. 153 Abs. 5 AEUV die Freiheit der
Arbeitnehmer und
Arbeitgeber umfasst, sich in Organisationen zusammenzuschließen, ihnen beizutreten oder fernzubleiben. Maßnahmen, die lediglich das Recht auf Tarifverhandlungen betreffen, fallen nicht unter diesen Ausschluss. Weder Art. 4 Abs. 1 Buchst. d noch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie greifen daher unmittelbar in das Koalitionsrecht ein, da sie die Mitgliedstaaten lediglich zur Förderung der Tarifverhandlungen anhalten, ohne die Organisationsfreiheit der Sozialpartner zu beschränken.
Zur Frage der Rechtsgrundlage entschied der Gerichtshof, dass die Richtlinie im Wesentlichen Maßnahmen zu den Arbeitsbedingungen nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV betrifft. Die Vorschriften zur Förderung der Tarifverhandlungen nach Art. 4 sind lediglich Nebenkomponenten und rechtfertigen keine zusätzliche Rechtsgrundlage nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV. Ein Rückgriff auf eine doppelte Rechtsgrundlage wäre mangels Vereinbarkeit der Gesetzgebungsverfahren ohnehin ausgeschlossen.
Die Entscheidung verdeutlicht die Grenzen, die Art. 153 Abs. 5 AEUV für die sozialpolitische Regelungskompetenz der Europäischen Union setzt. Unionsrecht darf die Angemessenheit von Mindestlöhnen fördern und Verfahren zur Festsetzung regeln, darf jedoch keine materiellen Vorgaben für die Lohnhöhe machen oder unmittelbar in die nationale Lohnbildung eingreifen.