Grundrechte dürfen nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes und nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden; dies gilt auch für Grundrechte von Gefangenen. Bei einer Fesselungsanordnung handelt es sich um einen gewichtigen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht. Bei der Bestimmung des Gewichts des Eingriffs im konkreten Einzelfall spielen neben der mit einer sichtbaren Fesselung einhergehenden stigmatisierenden Wirkung und der Dauer und konkreten Durchführungsart der Fesselung auch etwaige gesundheitliche Beeinträchtigungen des Gefangenen, sein Alter sowie der Umstand eine Rolle, ob er durch sein Verhalten Veranlassung zu der Fesselung gegeben hat.
Diese Wertungen liegen auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zugrunde, der Fesselungen regelmäßig an Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) misst. Seine Rechtsprechung ist bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Der EGMR bezieht bei der Beurteilung der Frage, ob eine Fesselung gegen Art. 3 EMRK verstößt, die individuelle Vorgeschichte und den Gesundheitszustand des betroffenen Gefangenen, etwaiges gefährliches Vorverhalten in Haft, ergänzend angewandte Sicherungsmaßnahmen sowie die Dauer und öffentliche Wahrnehmbarkeit der Fesselung ein. Die mit der Fesselung verbundene Zwangsanwendung ist auf das unausweichliche Maß zu beschränken. So stellt die eintägige Fesselung eines Gefangenen an sein Krankenbett eine unmenschliche Behandlung dar, wenn in Anbetracht von Alter, Gesundheitszustand und dem Fehlen konkreter Anhaltspunkte für ein von dem Gefangenen ausgehendes Sicherheitsrisiko die Fesselung auch in Anbetracht von zwei anwesenden Sicherheitskräften als unverhältnismäßig erscheint. Maßgeblich zu berücksichtigen ist, ob die Fesselung angeordnet wurde, obwohl der Gefangene durch sein Verhalten während der Haft in der Vergangenheit keinen Grund zu Beanstandungen gegeben hat. Das routinemäßige Fesseln eines Gefangenen, der sich in einer gesicherten Umgebung befindet, kann nicht gerechtfertigt werden. Das Wohlergehen der gefesselten Person ist regelmäßig zu überprüfen und der Einsatz der Fesseln ist von der anordnenden Instanz vollständig zu dokumentieren. In Übereinstimmung mit Part.IV.68.3. der European Prison Rules, die bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von Haftbedingungen indiziell zu berücksichtigen sind, ist die Dauer der Fesselung auf das unerlässliche Maß zu beschränken. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) hat in seinem Bericht an die deutsche Bundesregierung über seinen Länderbesuch in Deutschland im Dezember 2020 – allerdings in Bezug auf das Festhalten von Menschen in Polizeieinrichtungen – empfohlen, von der Fesselung von Personen an feste Gegenstände abzusehen.
Die Fesselung ist als besondere Sicherungsmaßnahme in § 69 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 6, § 70 StVollzG NRW verankert, die über § 69 SVVollzG NRW auch für den Vollzug der Sicherungsverwahrung zur Anwendung kommen. § 69 Abs. 2 Nr. 6 StVollzG NRW differenziert zwischen Fesselung und Fixierung, wobei der nordrhein-westfälische Gesetzgeber unter letzterer gemäß § 70 Abs. 5 Satz 1 StVollzG NRW eine Maßnahme versteht, durch die die Fortbewegungsfreiheit der Gefangenen absehbar nicht nur kurzfristig aufgehoben wird. § 69 Abs. 7, § 70 Abs. 4, Abs. 5 und Abs. 7 StVollzG NRW knüpfen die so verstandene Fixierung an besondere, auch verfahrensrechtliche Voraussetzungen. Angesichts des damit regelmäßig verbundenen Eingriffs in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG bedarf es insbesondere einer richterlichen Anordnung.
Der Erheblichkeit des Eingriffs entsprechend statuiert § 69 Abs. 8 StVollzG NRW Anforderungen an die Durchführung der Fesselung, die grundsätzlich nur entweder an Händen oder Füßen zu erfolgen und den Gefangenen zu schonen hat. Die Fesselung ist nach § 69 Abs. 8 Satz 3, § 70 Abs. 3 StVollzG NRW auf das (zeitlich) unbedingt erforderliche Minimum zu beschränken. Die Regelungen werden von Verfahrensvorschriften flankiert, insbesondere der Pflicht zur Dokumentation der Maßnahmen (vgl. § 70 Abs. 4 Satz 4 StVollzG NRW), und zur Benachrichtigung der Aufsichtsbehörde, wenn die Maßnahme mehr als drei Tage aufrecht erhalten wird (vgl. § 70 Abs. 6 StVollzG NRW).
Der Anwendungsbereich für Fesselungen während Ausführungen, Vorführungen und beim Transport ist gemäß § 69 Abs. 9 StVollzG NRW gegenüber den rechtlichen Voraussetzungen, die gemäß § 69 Abs. 1 StVollzG NRW für die Anordnung besonderer Sicherungsmaßnahmen allgemein gelten, erweitert. Unabhängig von konkreten, in der Person des Gefangenen liegenden Gründen ist die Fesselung in diesen Konstellationen nach der gesetzlichen Konzeption auch dann zulässig, wenn die Beaufsichtigung nicht ausreicht, um eine Entweichung zu verhindern. Mit Blick auf das nachvollziehbare Interesse der Anstalt an der Gewahrsamsicherung ausreichend, in Anbetracht der verfassungsrechtlichen Vorgaben aber auch notwendig ist, dass bei der Feststellung, eine Beaufsichtigung allein reiche nicht aus, um die Entweichung zu verhindern, die jeweiligen Umstände des Einzelfalles Berücksichtigung finden. Dies gilt auch für die im Rahmen der nach § 69 Abs. 1, Abs. 9 StVollzG NRW zu treffende Ermessensentscheidung über die Anordnung der Fesselung.
Vor diesem Hintergrund begegnet eine vollzugsbehördliche Praxis, die ohne Prüfung der individuellen Flucht- beziehungsweise Missbrauchsgefahr durch Justizbedienstete beaufsichtigte Ausführungen nur erlaubt, wenn der Gefangene gefesselt ist, mit Blick auf die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Erfordernis einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung verfassungsrechtlichen Bedenken. § 69 Abs. 9 StVollzG NRW darf nicht als eine Vermutungsregel (miss-)verstanden werden, welche die Fesselung bei Ausführungen ohne Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls als Regelfall ohne Weiteres zulässt. Wenn nach den Umständen des Einzelfalls, namentlich dem Vorverhalten des Gefangenen in Haft, seinem Gesundheitszustand, seinem Alter und dem Ablauf vorangegangener Ausführungen die Gefahr der Entweichung bei einer Ausführung auch in Anbetracht der gleichzeitig angeordneten Beaufsichtigung durch (bewaffnete) Justizbedienstete fernliegend ist, verdient das durch eine Fesselung empfindlich berührte allgemeine Persönlichkeitsrecht eines Gefangenen im Regelfall Vorrang vor den Sicherheitsinteressen der Anstalt und der Allgemeinheit. Das gilt insbesondere, wenn die Fesselung über einen längeren Zeitraum andauert.